Dem alten Mann war kalt. Schwester Maria hatte eine Wolldecke mitgebracht und sie über seine dürren Beine gebreitet, aber die Kälte kam von innen. Er spürte, wie seine Lebenskraft mit jedem rasselnden Atemzug aus seinem ausgemergelten Körper sickerte. Er war aber noch nicht bereit, seinem Schöpfer entgegen zu treten. Es gab da etwas, das wie ein Bleigewicht auf seiner Brust lastete. Ächzend versuchte er sich auf seinem einfachen Lager aufzurichten. Wieder schüttelte ihn ein Hustenanfall. Er spuckte roten Schleim in das Taschentuch, das die Schwester ihm vor den Mund hielt. Als der Anfall verebbt war, flößte Maria ihm etwas Wasser ein. Aus seinen tief in den Höhlen liegenden Augen sah er das Mädchen dankbar an. Er umklammerte ihren Arm. Seine Hand wirkte wie die Klaue eines Skeletts. Sie brachte ihr Ohr ganz nah an seinen Mund. Sein Atem roch sauer und faulig.
Mit zittriger Stimme bat er sie: »Bitte. Hol die Abadessa, ich muss beichten, bevor es mit mir zu Ende geht«.
Oberin Anthelma Schellnhuber war bereits in den frühen achtziger Jahren aus Österreich nach Santarém gekommen. Vor nunmehr elf Jahren hatte man sie zur Äbtissin gewählt und seitdem bestellte sie zusammen mit ihren Mitschwestern unermüdlich den Garten des Herrn in diesem wundervollen Land mit seinen einfachen und dankbaren Menschen.
Vor zwei Tagen hatten Indios den gebrechlichen Bruder im Glauben auf dem Rücken eines Esels her gebracht. Er war unschwer als Mitglied des Ordo fratorum minorum zu erkennen. Das Mutterhaus war in einem alten Kloster aus dem 16. Jahrhundert untergebracht, das den gleichen Namen trug wie die Kathedrale Nossa Senhor da Conceição, in der der Bischof residierte.
Die Benediktinerinnen hatten den alten Mann - er mochte die Sechzig überschritten haben, aber aufgrund seines jämmerlichen Zustands wirkte er deutlich älter - ganz am Ende des Zellengangs untergebracht.
Die Äbtissin hatte in der Heimat als einfache Ordensschwester einige Zeit in einem Hospital gearbeitet. In der Neuen Welt hatte sie bereits Fälle von hämorrhagischem Denguefieber gesehen. Die Haut des padre wies die typischen roten Punkte auf und sein Zahnfleisch sah aus wie eine frische Wunde. Anthelma musste sich anstrengen, um das Flüstern des alten Mannes zu verstehen. Sein Bericht wurde immer wieder von Hustenanfällen unterbrochen. Nach einiger Zeit erhob sie sich, um ihm frisches Wasser zu holen. Als sie zurückkam, blickten die Augen des Bruders starr zu Decke. Sie drückte ihm sanft die Lider zu und betete ein Ave Maria für seine arme Seele.
Am nächsten Tag machte sie sich auf den Weg in die Stadt. Was der Bruder ihr berichtet hatte, musste sie der weltlichen Gerichtsbarkeit anvertrauen. Gott würde die Missetäter strafen, aber es konnte nicht schaden, die Behörden ebenfalls darüber zu informieren.
Auf der Delegacia de Polícia tippte ein tüchtiger Beamter in makelloser Uniform ihre Aussage mittels einer uralten Schreibmaschine in das dafür vorgesehenen Formular. Das Schriftstück gelangte zunächst auf den Schreibtisch des Diensthabenden Kommissars, der es pflichtgemäß durchlas und abzeichnete. Danach wanderte es in einem Ordner in den Aktenschrank, der in den sechziger Jahren eine Amtsstube in der Hauptstadt verziert haben mochte.
Tavares
Die mittelgroße, dunkelhaarige Frau schlenderte gemächlich die Straße entlang. Sie trug einen Wischmopp und einen Eimer mit Putzmitteln. Offenbar war sie eine empregada, ein Hausmädchen, das auf dem Weg zu ihrer Arbeit war. Besonders eilig hatte sie es nicht, wie überhaupt die Leute auf der Straße der für die Küstenbewohner typischen Gemächlichkeit ihrem Tagwerk nachgingen.
»No sossego«, sagt der Brasilianer, wenn er zum Ausdruck bringen will, dass das Leben ein ruhiger, langer Fluss ist. Hektik ist etwas für Großstädter und auch wenn schon viele davon kurz vor Weihnachten in dem Städtchen unterwegs waren, hatten die Paulistanos sich dem gemächlichen Tempo angeglichen.
Noch fünfzehn Jahre zuvor war Juquehy eine verträumte Siedlung mit einem Lebensmittelladen und ein paar Wochenendhäusern entlang der Strandlinie. Damals gab es nur eine Erdstraße zur Rio-Santos, die nach den nachmittäglichen sintflutartigen Regenfällen nur mit einem Geländewagen befahrbar war. Natürlich scherten sich die Dorfbewohner nicht wirklich darum. Einen Geländewagen hatte damals hier niemand, man umfuhr mit seinem Fusca oder mit dem Fahrrad so gut es ging die metertiefen Schlaglöcher, die irgendwann mit Schotter wieder aufgefüllt wurden, bis der nächste Regen die Löcher wieder ausspülte. Mit der Zeit hatten die Wochenendbesucher zugenommen. Es wurden weitere Häuser gebaut, die Hauptstraße wurde asphaltiert, ein Shopping kam hinzu und mehrere kleine Pousadas sowie ein Hotel einer amerikanischen Kette buhlten um die Gäste, die aus São Paulo und zunehmend sogar aus dem Ausland anreisten, um die Wochenenden oder Ferien am Strand zu verbringen.
Die Frau bog an der nächsten Ecke rechts ab. Wahrscheinlich hatte sie den Auftrag, in einem der älteren Wochenendhäuser sauber zu machen, die ein paar Querstraßen weiter weg standen von der Uferpromenade und vom Strand mit seinem weißen, feinen Sand. Die meisten standen unter der Woche leer, jetzt dürften einige bereits vermietet sein. Ihr Ziel war das letzte Haus am Ende der Erdstraße. In unregelmäßigen Abständen waren hier Metallständer in die rote Erde versenkt, auf die man die schwarzen Müllsäcke legen sollte, um sie vor Ratten oder streunenden Hunden in Sicherheit zu bringen. Seit einigen Jahren warben verschiedene Bewegungen für Ökotourismus und Naturschutz in den Touristenorten des Litoral und langsam begann sich so etwas wie ein Umweltverständnis auch bei den Bewohnern einzustellen.
Vor dem Haus war ein silberner Chevrolet geparkt. Offenbar war jemand zu Hause. Es war schwül. In der Luft hing der Geruch der Jacas, die überreif von den Bäumen gefallen waren und nun am Wegesrand verfaulten. Die Frau prüfte die hintere Eingangstür und stellte fest, dass sie verschlossen war. Leise ging sie um das Haus herum. Der Rasen war gesäumt von Bougainvillea mit violetten Blättern und blauen Tumbérgia. Von der Hauswand hingen die gelben und roten Blüten der Sapatinho-de-Judia herab. Kleine, blaugrün schimmernde Beija-Flor schwirrten zwischen den Blüten umher. Die Terrassentür stand offen, gedämpfte brasilianische Musik war zu hören. Die glockenhelle Stimme von Elba Ramalho. Die empregada klopfte an den Fensterladen und rief halblaut: »Alô. Ist jemand zu Hause? Senhor? «
Sie bekam keine Antwort. Vorsichtig trat sie ins Haus und blickte sich um. Das Wohnzimmer war mit einer Sitzgruppe mit bunten Auflagen ausgestattet, die Wände waren weiß gestrichen. In einer Ecke stand ein einfacher Holztisch mit ein paar Stühlen, auf einem Sideboard stand die Stereoanlage. Auf einem Sitzmöbel lag ein Mann. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Er schlief. Ein Glastisch beherbergte neben einer leeren Flasche Rotwein und einem Glas die Reste einer einfachen Mahlzeit. Reis und Bohnen. Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Fußboden. Offenbar hatte der Mann es sich nach dem Essen gemütlich gemacht und war dabei eingeschlafen.
Die Frau stellte den Eimer ab und legte den Mopp vorsichtig daneben. Sie schlüpfte aus ihren chinelos und ging barfüßig zur Küche. Niemand da. Auch die beiden Schlafzimmer und das Bad waren leer. Das Haus hatte nur das eine Stockwerk. Sie ging zurück ins Wohnzimmer und schloss leise die Terrassentür ab. Mit einer geübten Bewegung zog sie die Träger herunter und streifte ihr Kleid ab. Sie trug keine Unterwäsche. Ihre Brüste waren klein und fest. Der flache Bauch und die kräftigen Beine zeugten von sportlicher Betätigung. Ein feiner Schweißfilm überzog ihre nahtlose Bräune. Sie löste ihre langen Haare und schüttelte den Kopf.
Während sie die Sitzgruppe umrundete, warf sie einen Blick auf den Schlafenden. Ungefähr Fünfzig. Schlank. Gepflegte Erscheinung. Er trug Shorts und ein Polohemd von Hering.
Sie drehte den Lautstärkeregler der Musikanlage hoch, dann ging sie mit wackelnden Pobacken hinüber zur Couch und betrachtete beinahe zärtlich den Mann, der wie ein Embryo eingerollt vor ihr lag. Sie bückte sich und holte behutsam noch etwas aus dem Eimer.
Aus den Lautsprechern drang die kraftvolle Stimme Zé Ramalhos:
Não vou me sujar
Fumando apenas um cigarro
Nem vou lhe beijar