Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte. Reinhard Warnke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhard Warnke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783738006179
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Berliner Abgeordnetenhaus, sogar mit den Stimmen der CDU, zum Regierenden Bürgermeister von Westberlin gewählt wurde.

      Und was lief im Fußball in diesem Jahr? Zum ersten Mal nach dem Kriege stand der Hamburger SV im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Doch auch Uwe Seeler konnte die deutliche 1:4-Niederlage gegen Borussia Dortmund vor 76.000 Zuschauern im Niedersachsen-Stadion von Hannover nicht verhindern. Die Borussia hatte also ihren Titel aus dem Vorjahr verteidigt und kam im Europapokal eine Runde weiter als zuvor. Doch im Viertelfinale kam das Aus nach einem 1:1 und einem 1:4 gegen den AC Mailand. Der HSV erreichte im folgenden Jahr erneut das Meisterschaftsfinale. Gegner waren diesmal die „besten Freunde“ der Dortmunder Borussen, also die Spieler von Schalke 04. Und Schalke gewann mit 3:0 genauso deutlich gegen die Hamburger. Im Europapokal kam Schalke 04 bis in das Viertelfinale, in dem es gegen Atletico, dem Stadtrivalen von Real Madrid, im Hinspiel in der „Glückauf-Kampfbahn“ ein 1:1-Unentschieden gab. Das Rückspiel verlor Schalke 04 dann aber deutlich mit 0:3 in der spanischen Hauptstadt und war damit aus dem Wettbewerb ausgeschieden.

      Für die Fußball-Weltmeisterschaft 1958 in Schweden musste sich die deutsche Mannschaft nicht qualifizieren, sondern war als Titelverteidiger automatisch Teilnehmer. Seit seinem 4. Länderspiel gegen die Niederlande im März 1956 hatte Uwe Seeler kein Spiel mehr in der Nationalmannschaft bestritten. In der Oberliga Nord und in den Endrundenspielen zur Deutschen Meisterschaft mit dem HSV bewies er jedoch nachhaltig, dass er sich zu einem enorm kopfballstarken und torgefährlichen Mittelstürmer entwickelt hatte. Dies blieb auch Bundestrainer Herberger nicht verborgen, der ihn folgerichtig in das WM-Aufgebot berief. Diese Weltmeisterschaft sollte der internationale Durchbruch des mittlerweile 21jährigen Stürmers werden. Gleich im Auftaktspiel gegen Argentinien in Malmö gelang ihm auf unnachahmlicher Weise der Führungstreffer zum 2:1 und damit sein erstes Länderspieltor. Die beiden anderen Treffer für Deutschland beim 3:1-Sieg gegen die Südamerikaner erzielte wieder einmal Helmut Rahn. Für Fritz Walter, der Ende 1956 seine Länderspielkarriere beendet hatte, war inzwischen Hans Schäfer zum Kapitän der Nationalmannschaft ernannt worden und mit Horst Eckel gehörte noch ein weiterer Weltmeister von 1954 zur Mannschaft. Doch Sepp Herberger konnte sich eine Weltmeisterschaft ohne Fritz Walter nicht vorstellen. Er redete solange auf seinen Spielmacher ein, bis dieser sich umstimmen ließ und beim Freundschaftsspiel gegen Spanien im März, das mit 2:0 gewonnen wurde, kehrte er in die Nationalmannschaft zurück. Er hatte seine Rückkehr in die Nationalelf aber davon abhängig gemacht, dass nicht er, sondern weiterhin Hans Schäfer Kapitän der Mannschaft bleiben solle. So war er, der Fritz.

      Im zweiten Gruppenspiel gegen die Tschechoslowakei lag die deutsche Mannschaft bereits mit 0:2 im Rückstand, ehe die beiden Weltmeister Schäfer und Rahn noch für den Ausgleich sorgen konnten. Im letzten Spiel der Gruppe 1 gegen Nordirland war erneut Helmut Rahn zum zwischenzeitlichen 1:1 erfolgreich, aber die deutsche Mannschaft musste nach dem 1:2 abermals einem Rückstand hinterher laufen. Und die deutschen Stürmer wurden von Torwart Harry Gregg zur Verzweiflung gebracht. Immer wieder hielt er Bälle in Weltklassemanier, die ein Torhüter eigentlich gar nicht halten kann. In der 79. Spielminute war es dann Uwe Seeler, der den „Wundertorwart“, wie man Gregg anschließend betitelte, mit einem Bombenschuss aus 20 Metern endlich bezwingen konnte. Das erneute Unentschieden reichte Deutschland schließlich zum Gruppensieg. Wie vier Jahre zuvor in der Schweiz, war erneut Jugoslawien der Gegner im Viertelfinale und Deutschland gewann äußerst glücklich mit 1:0. Und wer war der Torschütze? Klar, Helmut Rahn! Wieder stand Deutschland im Halbfinale. Gegner in dieser denkwürdigen Begegnung war Gastgeber Schweden. Die „Heja, Heja“- Anfeuerungs-rufe und antideutsche Parolen der fanatischen schwedischen Zuschauer zermürbten die deutsche Mannschaft im Laufe des Spiels. Der Düsseldorfer Verteidiger Juskowiak wurde wegen eines angeblichen Foulspiels gegen Hamrin des Feldes verwiesen. Wenig später musste Fritz Walter nach einem brutalen Foul eines schwedischen Abwehrspielers schwer verletzt vom Platz getragen werden. Damit war die Nationalmannschaftskarriere des Weltklassespielers Fritz Walter jetzt endgültig vorbei und dies auf äußerst tragische Weise. Sein Widersacher wurde übrigens nicht vom Platz gestellt. Da seinerzeit in Pflichtspielen noch keine Spieler ausgewechselt werden durften, musste die deutsche Mannschaft mit neun Spielern die Begegnung fortsetzen und stand damit letztendlich auf verlorenem Posten.

      Mit einer 1:3-Niederlage wurde das Endspiel verpasst und es blieb nur das Spiel um den 3. Platz. Mit einer Mannschaft, in der etliche Spieler eingesetzt wurden, die bis dahin nicht oder nicht regelmäßig zum Einsatz gekommen waren, wie zum Beispiel der junge Karl-Heinz Schnellinger vom 1. FC Köln, wurde diese dem Grunde nach unbedeutende Begegnung mit 3:6 gegen Frankreich verloren. Vierfacher Torschütze für die Franzosen war der gebürtige Marokkaner Just Fontaine, der mit 13 Treffern Torschützenkönig der Weltmeisterschaft 1958 wurde. Dies war wohl ein Rekord für die Ewigkeit. Einen traurigen Rekord stellte gleichzeitig Heinz Kwiatkowski von Borussia Dortmund auf, der in diesem Spiel das Tor der deutschen Mannschaft hütete. Er hatte bereits im Tor gestanden, als Deutschland 1954 im Gruppenspiel gegen Ungarn mit 3:8 unterlag. Heinz Kwiatkowski musste somit 14 Gegentore

      in zwei WM-Spielen hinnehmen. Man kann davon ausgehen, dass diese Quote nie wieder von einem deutschen Nationaltorwart erreicht wird.

      Bei dieser Weltmeisterschaft 1958 ging jedoch ein Stern am Fußballhimmel auf, der alles überstrahlen sollte. Ein 17jähriger Junge aus Santos in Brasilien dribbelte und schoss Tore, als wäre er schon jahrelang im Konzert der Großen dabei. Er hatte großen Anteil daran, dass Brasilien mit einem 5:2 gegen Schweden erstmals Weltmeister wurde. Sein Name: Edson Arantes do Nascimento, genannt „Pele“. Über zehn Jahre lang sollte dieser Pele der absolut beste Spieler der Welt sein und trotz Beckenbauer, Cruyff und Maradona – ich habe nie wieder solch einen Fußballer spielen sehen, der seinen Sport so perfekt beherrscht hat wie er. Als der junge Pele nach dem WM-Triumph in den Armen des erfahrenen Didi und Torwart Gylmar hemmungslos weinte, konnte man nur ahnen, welches Genie gerade die Bühne der großen Fußballwelt betreten hatte. Fußball – die schönste Nebensache der Welt.

      Derweil brachten zwei Rock-Stars aus den Vereinigten Staaten auch die deutsche Jugend um den Verstand. Während Bill Haley „Rock Around The Clock“ sang, flogen im Saal Stühle und Fäuste durch die Luft. Tausende jugendliche Fans pilgerten nach Bremerhaven, um ihr Idol Elvis Presley in Empfang zu nehmen, der dort mit einem Marineschiff kommend an Land ging, weil er in Hessen seinen Wehrdienst ableisten musste. Nur wenige wussten, dass Elvis deutsche Vorfahren hatte, denn sein Ur-Ur-Ur-Großvater war im 18. Jahrhundert Winzer in der Pfalz und ist von dort aus nach Amerika ausgewandert. Und auch im Bundestag ging es Anfang des Jahres hoch her. Dort sollte beschlossen werden, dass die Bundeswehr mit Atomwaffen ausgerüstet werden sollte. Bei der Debatte fiel ein junger SPD-Abgeordneter aus Hamburg durch eine leidenschaftliche Anti-Atom-Rede auf. Es war Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler. Ostern 1958 gab es Märsche der Atomgegner, also die ersten, aber längst nicht die letzten Ostermärsche.

      9 Ein neuer Lebensabschnitt

      Die meisten Dinge, die ich bisher niedergeschrieben habe, sind von mir nicht bewusst miterlebt worden. Dennoch wirken sie auf mich wie eigene Erinnerungen, da ich von dieser Zeit viel gehört und gelesen habe. Die Nachkriegsgeneration, zu der auch ich gehöre, wurde mit dem Zusatzprädikat „Gnade der späten Geburt“ bedacht. Die Menschen, die nach dem Ende des 2. Weltkrieges geboren wurden, können sich in der Tat glücklich schätzen, dass sie die schrecklichen Ereignisse des Krieges und des Nazi-Terrors nicht miterleben mussten. Manchmal denke ich zwar, dass es schade ist, niemals ein Fußballspiel mit Ferenc Puskas, Fritz Walter oder Alfredo di Stefano live gesehen zu haben, sondern dass ich ihr Können nur anhand von Schilderungen in Büchern oder Zeitschriften bewundern konnte. Doch der glückliche Umstand, dass ich den Krieg nicht miterleben musste, ist dann doch wohl deutlich höher einzuschätzen.

      Im Frühjahr 1959 wurde ich in unserer Dorfschule eingeschult. Erinnern kann ich mich an meine erste Lehrerin nur dahingehend, dass es sich um eine wohlbeleibte ältere Dame gehandelt hat, die sich mit „Fräulein Otto“ ansprechen ließ. Irgendwie war dies für mich gewöhnungsbedürftig. Im gleichen Jahr verließ unsere Familie die Baracke, in der ich meine ersten Lebensjahre verbracht hatte und wir zogen in das Bahnhofsgebäude ein. Plötzlich wohnten wir nicht mehr auf engstem Raum, sondern