Wenige Wochen nach der Weltmeisterschaft in Chile startete unsere Familie zu ihrer ersten Urlausreise. Mit der Bundesbahn ging es zunächst in Richtung Ruhrgebiet, nach Castrop-Rauxel. Spötter behaupten, Castrop-Rauxel sei die lateinische Bezeichnung für Wanne-Eickel und der geneigte Mallorca-Urlauber wird sich fragen: „Wie, um Gottes Willen, kommt man auf die Idee, seinen Urlaub in Castrop-Rauxel verbringen zu wollen?“ Nun ja, die Antwort ist ziemlich simpel. Wirtschaftswunder hin, Wirtschaftswunder her. Das Einkommen eines Bundesbahn-Obersekretärs begrenzte Anfang der 60er Jahre die Möglichkeiten einer Urlaubsreise mit zwei Erwachsenen und drei Kindern doch erheblich. Nun hatte mein Vater nicht nur in Düsseldorf einen befreundeten Kriegskameraden, bei dem meine Eltern fünf Jahre zuvor Karneval gefeiert hatten, während ich schlesischen Grünkohl kennen lernte, sondern er war seit den Auseinandersetzungen mit jugoslawischen Partisanen auch mit einem früheren Bergmann aus Castrop-Rauxel befreundet. Und so wurde die Einladung aus der Stadt am Rhein-Herne-Kanal, dass wir dort für ein paar Tage in dem typischen Reihenhaus einer Bergarbeiter-Siedlung Gäste sein durften, mit Freude angenommen. Da ein Bundesbahn-Beamter im mittleren Dienst anno 1962 zwar nicht viel verdiente, dafür aber für sich und seine Familienangehörigen wenigstens einige Freifahrten pro Jahr mit der Bahn hatte, konnte man die erste Hälfte unseres Urlaubs, mit kostenfreier Fahrt, sowie freier Kost und Logis durchaus in die Rubrik „kostenbewusstes Verhalten“ einordnen. Ich fühlte mich auch sofort ausgesprochen wohl dort, denn die beiden Söhne der Familie waren ebenfalls leidenschaftliche Fußballanhänger. Der jüngere der Beiden, der in meinem Alter war, hatte ein tolles Sammelalbum mit Bildern der gerade zu Ende gegangenen Weltmeisterschaft und die Bilder, die er doppelt hatte, schenkte er mir. Gleich am Tag unserer Ankunft wurde ich eingeladen, mit zur Kirmes zu kommen. Kirmes? Was ist das? Als wir auf dem „großen Festplatz“ ankamen, konnte ich feststellen, dass es bei uns in Norddeutschland offensichtlich auch „Kirmes“ gibt, nur dass wir dies „Jahrmarkt“ nennen. Ansonsten bestand die Kirmes auch nur aus ein paar Buden und einem Kinderkarussell. Was ich allerdings noch in Erinnerung habe ist die Tatsache, dass während der ganzen Zeit – und wir waren mehrfach bei der Kirmes – immer nur eine Schallplatte gespielt wurde. Es war der neue Hit von Pat Boone, „Speedy Gonzales“.
Es fiel mir schwer, mich von meinen neu gewonnen Freunden zu verabschieden, als wir die freundliche Bergarbeiterfamilie nach einigen Tagen verließen, um uns auf den Weg zu unserer zweiten Urlaubsetappe, Donaueschingen, zu machen. Auf der Reise habe ich den Abschied schnell vergessen, denn meine Schwestern und ich kamen aus dem Staunen nicht heraus. Aus den Fenstern des fahrenden Zuges blickend sahen wir zum ersten Mal in unserem Leben richtige Berge, auch wenn es sich dabei zunächst nur um die Weinberge entlang des Rheins gehandelt hat. Diese Bahnstrecke am Rhein gehört aber in der Tat zu den schönsten in Deutschland und jedes Mal, wenn ich diese Strecke erneut entlang gefahren bin, musste ich an meine erste Urlaubsreise in Richtung Süddeutschland denken. In Donaueschingen, wo wir in einer Pension gewohnt haben, habe ich mich über zwei Dinge gewundert. Zum einen war da eine ältere Frau, die von meinem Vater nach dem Weg zur Quelle der Donau gefragt worden war, nach der wir suchten, die wir aber bis dahin nicht gefunden hatten. Sie antwortete in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte und ich habe kein Wort verstanden. Man versicherte mir aber, dass wir uns noch in Deutschland befinden. Und dann war ich sehr erstaunt darüber, dass ein so großer Strom, wie die Donau, zunächst als ein solch unscheinbares Rinnsal seinen Anfang nimmt.
Während unsere Familie viel Spaß im Sommerurlaub hatte, erregte ein dramatisches und sehr trauriges Ereignis die Öffentlichkeit in der gesamten westlichen Welt. Am 17. August 1962, also fast auf den Tag genau ein Jahr nach Beginn des Mauerbaus in Berlin, wurde der junge Ostberliner Peter Fechter von Volkspolizisten erschossen, als er über die Mauer in den Westen flüchten wollte. Er war das erste von 78 Opfern des Schießbefehls. Walter Ulbricht rechtfertigte den Mauerbau ein Jahr zuvor mit der „Begründung“, dass eine Kontrolle an den Grenzen der DDR eingeführt werde, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich sei. Dabei muss man allerdings bedenken, dass es bei einem wirklich souveränen Staat eher nicht üblich ist, dass er auf seine Bürger schießen lässt, weil sie ihr Land verlassen wollen. Doch die Welt schaute in diesen Tagen nicht nur nach Berlin, sondern im Oktober starrte die Öffentlichkeit voller Entsetzen und Angst auf Kuba, wo amerikanische Aufklärungsflugzeuge Abschussrampen für sowjetische Raketen entdeckt hatten, die Nuklearsprengköpfe tragen können. US-Präsident John F. Kennedy ordnete umgehend eine Seeblockade gegen die Insel an und demonstrierte seine Entschlossenheit, notfalls einen Atomkrieg in Kauf zu nehmen. Die Welt hielt den Atem an, bis sich der sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow am 28. Oktober bereit erklärte, die Atomraketen aus Kuba abzuziehen. Mit dem Bau der Mauer in Berlin und der Kuba-Krise hatte der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreicht, gleichzeitig aber auch einen Wendepunkt. Die direkte Konfrontation bei diesen extremen Krisensituationen ließ bei den Supermächten die Erkenntnis wachsen, dass unter allen Umständen ein Nuklearkrieg vermieden werden müsse und deshalb Abrüstungsmaßnahmen erforderlich seien. Im Interesse einer verbesserten Kommunikation zwischen den beiden Weltmächten, um gerade in Krisensituationen zeitnah die richtigen und angemessenen Maßnahmen ergreifen zu können, wurde im Juni 1963 zwischen dem Weißen Haus in Washington und dem Kreml in Moskau der „heiße Draht“ installiert. Es handelte sich dabei um eine direkte Fernschreibverbindung, ein zu jener Zeit gängiges Kommunikationsmittel, das der jüngeren Generation, die mit Internet und Handys aufgewachsen ist, kaum noch ein Begriff sein dürfte. Mit dem Fernschreiber wurden Nachrichten in Schriftform mittels elektrischer Signale übermittelt, wobei für die Übermittlung in der Regel Lochstreifenleser und Stanzer angewendet wurden, um vorbereitete Texte mittels eines Lochstreifens mit maximaler Geschwindigkeit übertragen zu können.
Zeitgleich mit der Kuba-Krise hat sich eine politische Affäre ereignet, bei der sich die Pressefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand befand und an deren Ende die Bundesregierung umgebildet werden musste. Aufgrund einer Anzeige durch den Würzburger Staatsrechtler und Oberst der Reserve Friedrich August Freiherr von der Heydte und einem Gutachten des Bundesverteidigungsministeriums erließ die Bundesanwaltschaft unter Leitung des damaligen Ermittlungsrichters Siegfried Buback am 23. Oktober 1962 gegen mehrere Redakteure des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, darunter der spätere Regierungssprecher Conrad Ahlers, sowie Herausgeber und Chefredakteur Rudolf Augstein, Haftbefehle wegen angeblichen Landesverrats. Sie wurden daraufhin festgenommen und kamen in Untersuchungshaft. Drei Tage nach Erlass der Haftbefehle begann die Polizei mit der von der Bundesanwaltschaft angeordneten Besetzung und Durchsuchung der „Spiegel-Räume“ im Hamburger Pressehaus, später auch in den Bonner Redaktionsbüros. Auslöser für diese spektakuläre Maßnahme war ein von Conrad Ahlers verfasster Artikel in der „Spiegel-Ausgabe“ vom 10. Oktober 1962, in dem er unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ das Verteidigungskonzept der Bundeswehr unter Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Strauß in Frage gestellt hatte. Unter anderem gestützt auf Resultate des NATO-Manövers „Fallex 62“ war er zu dem Ergebnis gekommen, dass die Bundeswehr aufgrund ihrer Ausstattung zu einer konventionellen Verteidigung der Bundesrepublik gegen einen potentiellen Angriff des Warschauer Pakts nicht in der Lage wäre, sondern dass ein Angriff nur mit Hilfe des Einsatzes westlicher Atomraketen abgewehrt werden könne. Die „Spiegel-Affäre“ war das erste Ereignis der Nachkriegsgeschichte, zu dem die westdeutsche Öffentlichkeit spontan und engagiert politisch Stellung bezog, weil sie darin den Versuch sah, dass ein kritisches Magazin in seiner Meinungsäußerung eingeschränkt werden sollte. Die Öffentlichkeit