Die Odyssee. Christoph Laurentius Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Laurentius Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738087727
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oder aber Schlafende wecken kann, ganz wie es ihm beliebt. Seinen Stab in den Händen, sprang der mächtige Argosbezwinger in den Äther, flog über Piëria hinweg, schoss dann aus den Lüften herab zum Meer und sauste dicht über den Wellen vorwärts. Wie eine Möwe, die in den gefährlichen Wellentälern der wogenden See nach Fischen taucht, die Flügel nass von salziger Gischt, glitt er dahin.

      Als er die abgelegene Insel erreichte, verließ er das aufgewühlte, blaue Meer und ging über Land, bis er bei der Grotte ankam, wo die Nymphe mit den schönen Locken lebte. Sie war auch zufällig zu Hause. Ein großes Feuer loderte auf ihrem Herd, und über der ganzen Gegend lag der Geruch frisch gespaltener Zedern und das Aroma von Räucherhölzern. Von drinnen hörte man sie mit lieblicher Stimme singen; dabei webte sie, hin und her flog der goldene Webkamm. Um die Grotte herum standen sattgrüne Bäume, Erlen und Pappeln, auch einige Zypressen, die einen köstlichen Duft verbreiteten. Vögel mit langen Schwingen nisteten dort, Eulen, Habichte und Seekrähen, die draußen auf dem Meer ihrer Arbeit nachgehen. Rings um den gewölbten Eingang der Höhle rankte sich ein Weinstock, der über und über voll Trauben hing. Quellen sprudelten glitzernd, vier an der Zahl, dicht nebeneinander, und das klare Nass floss in alle vier Himmelsrichtungen. Liebliche Wiesen ringsum blühten voll Veilchen und Sellerie. Selbst Unsterbliche müssen vor einer solchen Szenerie in Verzückung geraten und können eine gewisse Bewunderung nicht ableugnen.

      Und so stand auch der Götterbote und Argosbezwinger zunächst mit offenem Mund da. Nachdem er aber ausreichend verzückt war und nach Herzenslust bewundert hatte, betrat er rasch die riesige Grotte der Kalypso. Und auf den ersten Blick erkannte ihn die heilige Frau und himmlische Göttin; denn Unsterbliche und Götter erkennen ihresgleichen immer, selbst wenn ihre Wohnsitze schier unendlich weit voneinander entfernt liegen. Den mutigen Helden Odysseus traf er nicht in der Höhle an; der saß wie gewöhnlich auf den Felsen am Meer, grübelte und seufzte. Über die unruhige, endlose Salzflut schaute er hin, das Herz voller Sorgen, die Augen voller Tränen.

      Die blendend aussehende Göttin bot Hermes ihren besten Thronsessel an, ein herausragendes Exemplar, und sagte: "Schau an, der bewundernswerte Hermes mit dem goldenen Stab! Mein Lieber, kommst du meinetwegen her? Du lässt dich doch sonst nie hier blicken. Sag, was willst du von mir? Ich erfülle dir gern jeden Wunsch, wenn ich es vermag und wenn es nichts ganz und gar Unmögliches ist. Aber lass mich dir erstmal etwas zum Willkommen anbieten."

      Die Göttin schob ein Tischlein heran, bot ihm Ambrosia an und schenkte glutroten Nektar ein. Und er aß und trank, der Götterbote und Argosbezwinger. Nachdem er endlich genug gegessen hatte und sich wieder frisch fühlte, kam er zur Sache:

      "Da du mich, kaum dass ich angekommen bin, von Göttin zu Gott so unverblümt fragst, komme ich mit deiner Erlaubnis gleich auf den Punkt. Zeus hat mich hergeschickt, es war nicht meine Idee. Wer fliegt schon gern über endlose Wüsten von Salzwasser? Und nicht die geringste Aussicht auf eine Stadt am Weg, wo Menschen den Göttern in größerem Umfang opfern und ihnen kulinarisch etwas bieten. Doch Zeus' Wille ist mein Wunsch, kein Gott würde es wagen, ihm zu widersprechen. Er sagte, bei dir halte sich ein besonders bemitleidenswertes Exemplar jener Gattung Männer auf, die neun Jahre Krieg führten gegen die Stadt des Priamos, um sie im zehnten zu zerstören und wieder nach Hause zu fahren. Doch auf der Rückfahrt hatten sie Athene verärgert, die ihnen aus Wut mörderische Wellen und widrige Winde schickte. Das hat ihn leider seine komplette Mannschaft gekostet. All seine Gefährten gingen unter; ihn selbst verschlugen Wind und Wellen hierher zu dir. Aber nun sollst du Odysseus, so wünscht es der große Meister, unverzüglich entlassen. Denn ihm ist nicht bestimmt, fern von denen, die er liebt, zu sterben; laut Schicksal soll er Haus, Vaterland und die Seinen wiedersehen."

      Kalypso fröstelte plötzlich. Erregt sagte sie: "Hart seid ihr, Götter, und gönnt einem aber auch gar nichts. Es ist der pure Neid, weil ich als Göttin mit einem Mann schlafe und es auch noch hinkriege, dass er gerne bei mir ist. Als die zarte Eos sich in Orion verliebte, wart ihr genauso eifersüchtig, ihr Seligen da oben, die ihr das Leben angeblich so locker seht. Ihr wart erst zufrieden, als die keusche Artemis es ihm besorgte und ihm mit ihren tödlichen Pfeilen ein sanftes Ende bereitete, damals in Ortygia. Die gleiche Geschichte bei Iason, als Demeter mit den schönen Haaren ihrem starken Verlangen nachgab und sich aus Liebe auf dem bewussten Acker mit ihm vereinigte. Zeus bekam Wind davon und schleuderte seinen Blitzstahl nach ihm: tot.

      Und nun äugt ihr Götter neidisch auf mich, weil wieder ein Mensch und Mann im Spiel ist. Dabei habe ich ihn selbst gerettet und sozusagen für mich an Land gezogen. Er trieb mutterseelenallein auf dem Wasser, klammerte sich an einen Schiffskiel. Zeus hatte mit dem Blitzstrahl sein schnelles Schiff mitten auf hoher See in Stücke geschlagen, wobei alle seine mutigen Gefährten zugrunde gingen. Nur ihn trieben Wind und Wellen hier ans Ufer. Ich mochte ihn, nahm ihn auf, pflegte ihn; ja, ich habe ihm sogar ewige Jugend und Unsterblichkeit angeboten. Nun gut, dem Willen des Herrschers der Aigis muss man sich beugen, keiner der anderen Götter kommt gegen ihn an. Dann muss er also wieder hinaus aufs rastlose Meer, wenn Zeus es unbedingt so will. Ich kann jedoch nicht viel für ihn tun, ich verfüge weder über Schiffe und Ruder noch über Mannschaften, die ihn über die See befördern könnten. Aber ich werde es ihm schonend beibringen und ihm auch ein paar gute Tipps geben, wie er unbeschadet ins Land seiner Väter kommt."

      Der Götterbote antwortete: "Also lass ihn ziehen; und vergiss es nicht, sonst wird Zeus ärgerlich. Und seinen Zorn hättest allein du auszubaden." Nach diesen Worten machte sich der starke Argosbezwinger und Götterbote auf und davon.

      Die mächtige Nymphe war sich durchaus im Klaren darüber, was ein Befehl war. Sie ging sofort Odysseus suchen. Der tapfere Held saß am Meer, wie immer mit Tränen in den Augen: Aus und vorbei, zerronnen der glückliche Lebensabschnitt, Heimweh verspürte er. Er hatte genug von der Nymphe. Zwar schlief er jede Nacht in der gewölbten Grotte mit ihr, aber eigentlich wollte er es nicht. Er zwang sich dazu, weil sie es so gerne tat. Am Tag saß er dann schlecht gelaunt auf den Felsen am Meer, grübelte und seufzte; über die unruhige, endlose Salzflut schaute er hin, das Herz voller Sorgen, die Augen voller Tränen.

      Da trat Kalypso, die Göttliche, zu ihm und sagte: "Nun hör auf zu klagen, du Ärmster! Du musst dein Leben nicht weiter vergeuden. Ich habe ernsthaft nachgedacht und mich entschlossen, dich gehen zu lassen. Also los! Fälle ein paar kräftige Bäume mit der Axt, binde sie zu einem Floß zusammen. Darüber zimmerst du aus Balken ein Deck, damit du sicher und trocken über die feuchten Wogen getragen wirst. Ich gebe dir reichlich Verpflegung mit, sowie Wasser und roten Wein. Du wirst schon nicht verhungern. Ich kleide dich neu ein und besorge dir zu guter Letzt noch günstigen Wind. So wirst du glücklich und wohlbehalten im Land deiner Väter ankommen; das heißt, vorausgesetzt, dass es auch den Göttern beliebt, die im weiten Himmel wohnen. Denn an die reiche ich, was Weitsicht und Macht betrifft, nicht heran."

      Da fröstelte es Odysseus plötzlich, er sagte hastig: "Da steckt irgendwas dahinter, Göttin, du willst doch eigentlich, dass ich bleibe. Und auf einmal rätst du mir, mit einem kleinen Floß eine derart riesige Entfernung zurückzulegen, über ein abgrundtief gefährliches, grausames Meer, das selbst gutgebaute, schnelle Schiffe mit Segeln kaum überwinden! Das mit dem Floß kommt überhaupt nicht in Frage, alpha, weil du es nicht wirklich willst, beta, es sei denn, du schwörst mir heiligste Eide, dass du mich nicht hereinlegst und mich ins Verderben stößt."

      Da flog ein Lächeln über ihr dunkles Gesicht. Mit ihrer Hand streichelte ihn Kalypso, die Göttliche, und sagte dann mahnend: "Du unterstellst immer gleich böse Absichten, du durchtriebener Kerl! Von dir kommt kein Wort ohne Berechnung. So seien also die Erde und der weite Himmel meine Zeugen; bei den unterirdischen Wassern der Styx schwöre ich - das gilt übrigens bei uns seligen Göttern als der tödlichste Schwur -, dass ich dich nicht hereinlege und ins Verderben stoße. Im Ernst: Ich käme doch nie auf den Gedanken, dir zu etwas zu raten, was ich, in vergleichbarer Lage, nicht selbst tun würde. Ich denke immer gerecht und positiv, schon aus Prinzip. Ich habe kein Herz aus Eisen in der Brust. Mitleid habe ich!"

      Nach diesen Worten sprang die himmlisch hübsche Göttin davon, und er folgte ihr auf dem Fuße. Als Göttin und Mensch in der geräumigen Höhle angelangt waren, setzte er sich auf den Stuhl, auf dem zuvor Hermes gesessen hatte. Sogleich stellte ihm die Nymphe eine komplette Mahlzeit auf das Tischlein, allerdings nur Nahrungsmittel, die Sterbliche