Die Odyssee. Christoph Laurentius Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Laurentius Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738087727
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zwei große, dreifüßige Kessel und ganze zehn Talente Gold geschenkt; und auch seine Gattin geizte nicht und gab für Helena eine goldene Spindel und ein mit Ornamenten verziertes, silbernes Kästchen, dessen Ecken zu allem Überfluss auch noch vergoldet waren. Genau dieses Geschenk brachte nun die Dienerin Phylo. Feinstes Garn füllte das Kästchen, und obenauf lag die goldene Spindel, umwunden mit veilchenfarbener Wolle.

      Helena ließ sich nieder auf den Sessel, platzierte ihre Füße auf dem Schemel und begann sofort, ihren Gatten unumwunden auszufragen: "Wissen wir schon, Menelaos, mein Göttergatte, wie diese jungen Männer heißen? Von woher sie sich rühmen, gekommen zu sein? Täusche ich mich, oder ahne ich das Richtige, wenn ich sage, was mir auf dem Herzen liegt, dass mir nämlich noch nie im Leben, weder bei Männern noch bei Frauen, eine derartige, absolut frappierende Ähnlichkeit aufgefallen ist: Dieser junge Mann dort muss einfach der Sohn des stolzen Odysseus sein. Ja, jener Telemachos, den er gleich nach seiner Geburt zurückließ, als ihr Achaier gen Troja fuhrt, so ganz und gar kampfentflammt wegen meiner Wenigkeit und meinen treufrechen Hundeaugen."

      Darauf blieb dem blonden Helden Menelaos nurmehr zu sagen: "Ja, Frau, genau das habe ich auch gerade gedacht. Hände, Füße, Augen, ganz genau wie bei ihm, auch das Profil und die Locken. Eben noch habe ich von Odysseus gesprochen und erwähnt, wie viel er meinetwegen erduldet und durchlitten hat. Und gleich fing er hier an zu weinen, bittere Tränen rannen ihm von den Wimpern, und er verhüllte sein Gesicht in seinem purpurnen Mantel."

      Da sagte Nestors Sohn Peisistratos: "Verehrter Atride Menelaos, König deines Volkes, ja, er ist wirklich sein Sohn, wie du vermutest. Da er jedoch äußerst bedächtig und sensibel ist, meint er, es sei unpassend, sich dir gleich nach der Ankunft mit aufdringlichem Geschwätz und sämtlichen Problemen zu nähern. Außerdem hat uns deine Erzählung vollkommen gefesselt. Mich hat der alte Nestor nur als Begleitung mitgeschickt. Telemachos wollte dich unbedingt sehen und fragen, ob du ihn mit Rat und Tat unterstützen kannst. Denn ein Sohn hat's nicht leicht im Haus, wenn der Vater fort ist und kein anderer ihm zur Seite steht, wie es bei Telemachos der Fall ist. Verschollen der Vater, und niemand aus der Stadt hat die Zivilcourage, ihn vor Unrecht zu schützen."

      Darauf sagte der blonde Held Menelaos: "Meine Güte, da habe ich tatsächlich den Sohn meines besten Freundes im Haus, der um meinetwillen so viele Gefahren durchgestanden hat! Den ich von den Achaiern am liebsten wiedergesehen hätte, wenn Zeus, der Donnergott im Olympos, uns allen die Heimkehr auf den schnellen Schiffen erlaubt hätte! Einen Palast, ja eine ganze Stadt in Argos hätte ich ihm gegeben, um ihn aus Ithaka herzulocken, mitsamt Sohn, Vermögen und all seinen Leuten. Ich hätte eine der umliegenden Städte, die mir gehören, extra für ihn räumen lassen. Dann wären wir oft hier zusammengekommen, nichts hätte unsere Freude, unsere Freundschaft stören können, bis dass, na ja, bis dass die dunklen Wolken des Todes uns verschluckt hätten. Garantiert war es ein Gott, der uns das vermiest hat, weil er meinem Freund, dem armen Kerl, die Heimkehr nicht gönnte."

      Bei diesen Worten spürten nun alle das Verlangen, zu weinen und zu klagen. Weinend saß Helena da, die argeiische Götterschöne, weinend Telemachos, und auch der Sohn des Atreus heulte. Ja, selbst Nestors sonst tränenfreier Sohn Peisistratos bekam ansatzweise feuchte Augen. Sein Herz schmerzte sehr, denn er erinnerte sich an seinen Bruder Antilochos, den fehlerfreien, der vom überlegenen Sohn der strahlenden Eos in den Haides befördert worden war. Da ihm das Gefühl schon bis zum Hals stand, sagte er:

      "Sohn des Atreus! Nestor, mein Alter, sagt immer, wenn wir bei uns zu Haus im Palast über dich reden, du seist ein sehr kluger Mensch. Deshalb bitte ich dich um einen Gefallen. Ich habe überhaupt keine Lust, nach einem so guten Abendessen an Tränenorgien mitzuwirken. Morgen wird die Sonne schon wieder aufgehen. Weinen soll man meiner Meinung nach, wenn ein Sterblicher von uns geht, dem Ruf des Schicksals folgt und so weiter. Das Einzige, was wir dann tun können, um die Bedauernswerten zu ehren, ist Tränen vergießen und uns in Trauer die Haare abschneiden. Mir ist mein Bruder gestorben, er war bestimmt nicht der schlechteste im Heer der Achaier. Aber das wirst du besser wissen; ich habe ihn ja selbst nie gesehen. Ich weiß nur, dass man sagt, Antilochos sei ein rekordverdächtiger Läufer und auch ein guter Kämpfer gewesen."

      Darauf sagte der blonde Held Menelaos: "Dein Einwurf, mein lieber Freund, ist so klug und abgeklärt, dass er auch vom weisen Nestor selbst stammen könnte. Ganz und gar der Sohn seines Vaters! Da sieht man mal wieder, mit wem es Zeus bei Heirat und Nachkommenschaft gut meint. Er hat Nestor ja auch gegönnt, sehr alt zu werden und seine Tage gemütlich in seinem Palast zu beschließen, umringt von klugen Söhnen, die ihre Lanzen zu handhaben wissen. Also, ihr Lieben: Schluss mit der Jammerei, wir wollen wieder fröhlich tafeln! Schickt Diener, wir wollen uns die Hände waschen! Morgen früh ist dann Zeit, mich mit Telemachos ausführlich auszutauschen."

      Und der allzeit bereite Diener des weltberühmten Menelaos, Asphalion, goss Wasser über ihre Hände. Dann langten sie wieder zu, denn alles lag bereit auf den Tischen. Und Helena hatte noch eine gute Idee; in den Wein, den sie tranken, gab sie heimlich ein Kraut, das gut gegen Sorgen und Ärger wirkt - man vergisst einfach alles Schlimme. Wer das Mittel zusammen mit Wein zu sich nimmt, der kann an diesem Tag keine einzige Träne mehr vergießen, selbst wenn Vater und Mutter gemeinsam im Sterben lägen oder vor seinen Augen der liebste Sohn oder der Bruder mit dem Schwert niedergemetzelt würde. Solche starken und heilenden Drogen besaß die schöne Helena. Polydamna, die Frau, mit der Thon schlief, hatte ihr die Drogen aus Aigyptos geschickt, dem Land, wo die fruchtbare Erde im Überfluss Tausende von Kräutern hervorbringt, sowohl nützliche wie auch schädliche. Dort ist beinahe jeder ein Heilkundiger, wie sie überhaupt dort mehr wissen als der Rest der Menschheit. Kein Wunder, denn sie stammen allesamt von Paiëon ab.

      Nachdem Helena das Kraut in den Wein getan hatte, und alle die Becher damit gefüllt hatten, brachte sie das Gespräch wieder in Gang: "Atride Menelaos, mein Göttergatte, und ihr beiden, ihr Söhne erlauchtester Männer! Glück oder Unglück bringt Zeus, heute für den, morgen für jenen. Er kennt keine Beschränkungen, er macht, was er will. Deshalb lasst es euch, zur Abwechslung, jetzt mal ohne Einschränkung gut gehen. Bleibt noch ein wenig sitzen, esst etwas und genießt dabei die Geschichte, die ich euch erzählen werde.

      Ich kann euch natürlich nicht alles erzählen, all die Begegnungen, all die Kämpfe, die der im Unglück stets standhafte Odysseus durchgemacht hat; nur von einer einzigen und besonders waghalsigen Heldentat will ich reden. Es war im Land der Troer, wo ihr achaischen Männer eine so schwere Zeit hattet. Mit einer Geißel hatte Odysseus sich selbst Wunden zugefügt und sich dann ein billiges Tuch übergeworfen, er sah aus wie ein geprügelter Sklave. So konnte er sich in die uneinnehmbare feindliche Festung hineinschleichen. Er tat so, als wolle er betteln, und erinnerte in nichts an den Helden, den man bei den achaischen Schiffen zu sehen gewohnt war. Er war also drinnen in der gigantischen Festung, unerkannt; nur ich durchschaute seine Verkleidung. Ich wollte ihn ausfragen, doch er wich geschickt aus. Da bot ich ihm ein Bad an. Und als ich ihn gewaschen und mit Öl eingerieben, ihm neue Kleider geschenkt und alle heiligen Eide geschworen hatte, den Troern nichts zu verraten, bis er wieder bei den Zelten und den schnellen Schiffen der Gefährten wäre, da endlich erzählte er mir von den Plänen der Achaier. Auf dem Rückweg tötete er noch eine ganze Reihe von Trojanern, um dann mit wertvollen Erkenntnissen zu seinen Leuten zurückzukehren. Laut klagten die Frauen Trojas, doch ich freute mich im Stillen; denn ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt schon wieder umorientiert: Ich sehnte mich danach, mein Haus, meine liebe Heimat wiederzusehen, und bereute, der Verführungskunst der mächtigen Aphrodite erlegen zu sein, die mich derart verliebt gemacht hatte, dass ich alles verließ, was mir lieb gewesen, meine Tochter und das Ehebett eines Mannes, der herzensgut und dazu noch schön war."

      Darauf sagte ihr blonder Held Menelaos: "Du hast das alles stimmig dargestellt, Frau. Ich bin ja in der weiten Welt herumgekommen und habe einige mutige Männer, ihre Ideen und Zielvorstellungen, kennengelernt, doch ist mir kein zweiter unter die Augen gekommen, der so beherzt und geradeaus war wie der kühne Odysseus. Denk nur an das Kabinettstückchen mit dem hölzernen Pferd! Was hat er da riskiert, zusammen mit uns, den mutigsten Argeiern. Wir saßen drinnen, bereit den Troern Mord und Totschlag zu bringen, da kamst ausgerechnet du des Wegs, Frau, als hätte ein böser Geist dich geschickt, der den Troern zum Sieg verhelfen wollte. Und auf deinen Fersen folgte die schöne Deïphobos. Dreimal bist du um das hohle trojanische Pferd herumgeschlichen,