„Erzähl mir etwas von dir“, forderte er.
„Nun, da gibt es nicht viel zu sagen. Ich führe ein bemerkenswert normales Leben.“
„Es ist erstaunlich, was jeder für normal hält. Sich mit Geistern zu beschäftigen, sie zu jagen oder zu erforschen, wie immer du das auch nennst, würden wohl die meisten als nicht alltägliche Beschäftigungsart empfinden.“
„Da wären wir also wieder bei einer Facette von „interessant““, antwortete Verena sarkastisch.
„Ist es so schwer für dich zu akzeptieren, dass es mich ehrlich interessiert?“
„Warum tut es das?“
Auf diese Frage wusste Georg nicht gleich Antwort oder besser gesagt, sich die Wahrheit einzugestehen, fiel sogar ihm nicht leicht. „Ich weiß es nicht. Doch da ist etwas an dir, dass mich anzieht, dass den Wunsch in mir weckt, dich wieder zu sehen. Und von der Vernunft her, widersprechen sich unsere beiden Personen, doch mein Instinkt sagt mir, das mir das herzlich egal ist.“
„Vernunft und Instinkt. Und wie oft hört ein Polizist auf seinen Instinkt?“, wollte Verena wissen.
„Öfters als wir zugeben würden“, bekannte Georg ehrlich.
Verena setzte ihren Weg fort. „Ich bin auf einem vierhundert Jahre alten Gut aufgewachsen. Mein Vater war Offizier der UNO Einsatztruppen und oft Monate nicht zu Hause. Doch dafür war die Zeit, die er da war immer sehr intensiv. Meine Eltern haben sich sehr geliebt, obwohl sich meine Mutter zweifellos ihm unterordnete. Zumindest nach außen hin, ich glaube, dass Soldatenleben konnte auch privat nur schwer Widerspruch dulden.
Bei uns lebte auch meine Großmutter, sie war das komplette Gegenteil von ihren Sohn und bis heute kann ich es eigentlich nicht verstehen, dass mein Vater derart immun und abweisend gegenüber den Übersinnlichen war. Sie meinte immer, er sei das Ebenbild von meinen Großvater, eines englischen Besatzungssoldaten, den sie während des Zweiten Weltkrieges kennen gelernt hatte. Im Großen und Ganzen waren wir eigentlich eine harmonische Familie.
Ich hatte eine sehr innige Beziehung zu meiner Großmutter, wir waren uns im Wesen sehr ähnlich. Das war allerdings ein Punkt, den mein Vater nicht so toll fand. Er meinte immer, sie setze mir Flausen in den Kopf.“ Für einen Moment dachte Verena zurück in die Vergangenheit, an den Punkt, der Zeit ihres Lebens ein Streitfaktor zwischen ihren Vater und ihrer Oma gewesen war.
„Meine Großmutter konnte sie auch sehen.“ Verenas Stimme war zu einem Flüstern abgesunken und Georg spitzte angestrengt seine Ohren um ihre Worte zu verstehen. „Was konnte sie sehen?“ Verena steckte ihre Hände in die Jackentasche und Georg spürte förmlich ihre Abwehrhaltung und es blitze rebellisch in ihren Augen als sie ihr Gesicht ihm zuwandte.
„Die Seelen. Die Seelen, die noch nicht ihr Leben abgeschlossen haben, festsitzen und als Geister sich bemerkbar machen.“ Georg wäre niemals in den Moment auf den Gedanken gekommen, Verena auszulachen oder ihre Aussage als unglaubwürdig darzustellen. Im Grunde glaubte er nicht an übernatürliche Erscheinungen und schon gar nicht an Geister, sein Vernunftsdenken ließe eine solche Möglichkeit gar nicht zu. Der trotzige Ausdruck in ihren Augen bewies ihm, dass Verena schon oft diese Auseinandersetzung geführt hatte.
Als Georg nicht wie erwartet reagierte, sie sogar mit einer aufmunternden Geste aufforderte weiter zu sprechen, entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder.
„Für meine Großmutter war es normal, sie sehen zu können, genauso wie für mich. Es ist immer schon so gewesen. Meine Mutter saß sozusagen zwischen den Stühlen. Sie gab mir zu verstehen, dass sie mir glaubte, doch mein Vater war absolut uneinsichtig. Er beschuldigte sogar meine Großmutter mir es eingeredet zu haben. Zu Beginn dachte er vielleicht, dass ich mit dem größer werden es irgendwann zu dumm finden würde, zu behaupten, dass ich Kontakt zu Geistererscheinungen habe. Ja, einige Zeit hielt er es eher für ein Spiel. Doch es kam der Zeitpunkt, wo er erkannte, dass dem nicht so war. Zuerst versuchte er mir zu erklären, dass es das gar nicht geben konnte, versuchte mich mit allen Mitteln zu überzeugen. Doch was immer er auch vorbrachte, ich wusste ja, das es anders war.“
Verena sah kurz zu den Sternen hoch, dachte an ihre Großmutter, die irgendwo da draußen verschwunden war. „Meine Großmutter war vollkommen unbeeindruckt über das Aufbrausen ihres Sohnes, ihr imponierten in diesen Fall nicht seine Autorität, die er innehatte, nicht seine Uniform. Sie gaben sich beiderseits zu verstehen, dass sie ihre jeweilige Vorgehensweise in meiner Person nicht gut hießen. Da ich beide liebte, lebte ich mit der Zeit zwei Leben. Ich lernte auf dem Grat zu wandern. Das eine Leben erlaubte mir, mich mit der Welt die ich um mich herum wahrnahm, auseinanderzusetzen. Meine Großmutter hat mich viel darüber gelehrt, zeigte mir, dass diese Eigenschaft an einem Menschen etwas ganz Besonderes ist. Das andere Leben war für meinen Vater und vermutlich auch für den Großteil der restlichen Welt, die mit meiner Begabung nicht klar kamen. Meine Mutter verhielt sich unparteiisch und erwähnte nie die endlos langen Stunden, die ich mit meiner Oma verbrachte in der Nacht und im Studium über übersinnliche Wahrnehmung. Sie sorgte dafür, dass die Waage im Gleichgewicht blieb.“
Verena atmete tief ein, das folgende Kapitel war ihr das unliebsamste. „Mein Vater war wie so viele Väter. Er wünschte sich, dass ich studiere, Jura, Medizin oder auch Architektur. Ich ließ ihm in dem Glauben, darin war ich gut. Ich spielte ihm schon so lange eine für ihn heile Welt vor ohne Geister. In Wirklichkeit machte ich mein Studium in Archäologie, Geschichte und Psychologie. Natürlich konnte ich es ihm nicht immer verheimlichen, obwohl es nicht allzu schwierig war, denn er war wochenlang nicht zu Hause.
Doch diese Heimlichkeit nagte an mir, ich wollte, dass er es akzeptierte, mich nahm wie ich eben war, auch wenn es nicht seinen Vorstellungen entsprach. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Enttäuschung? Auf jeden Fall geriet er in fürchterliche Wut, er erkannte, dass ich ihm all die Jahre hinters Licht geführt hatte.
Wir hatten einen furchtbaren Streit, es ist die schlimmste Erinnerung in meinen Leben. Es ließ sich nicht vermeiden, dass auch meine Oma damit konfrontiert wurde. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon alt und bettlägerig. Ich weiß nicht, ob sie unser Streit so aufgeregt hat oder einfach ihre Zeit zu Ende war, jedenfalls starb sie zwei Tage später. Es war ein Verlust, der mich hart getroffen hat. Ich beschuldigte meinen Vater ihren Tod herbeigeführt zu haben. Ich habe ihn angeschrieen, beschimpft, sagte unverzeihliche Dinge. Er stand nur da und wehrte sich nicht.
Danach habe ich meine Sachen gepackt und bin gegangen. Ich beendete mein Studium und begann in der Welt herum zu reisen. Ich sammelte, erforschte Berichte über die unsichtbare Welt neben uns. Und diese Tätigkeit hat mich inzwischen durch ganz Europa geführt. Und im Moment bin ich hier gelandet. Ich trage im Auftrag eines Verlages Informationen, Berichte und Augenzeugenaussagen für ein Buch zusammen. Auch wenn es die Leute nicht gerne öffentlich zugeben dan Geistererscheinungen zu glauben, so ist es doch bei vielen so, manche fürchten sich sogar und es ist doch seltsam vor etwas Angst zu haben, von dem sie behaupten, dass es das gar nicht gibt. Ist schon irgendwie komisch, findest du nicht?“
Verena fühlte sich nach ihrer Lebensgeschichte ausgelaugt und war direkt dankbar, dass Georg ihr nicht widersprach noch irgendetwas in Frage stellte. Er schlenderte im gemächlichen Takt neben ihr her und nickte leicht mit dem Kopf.
„Angst ist etwas sehr Elementares, jeder fürchtet sich vor etwas. Hast du denn niemals Angst vor solchen Begegnungen?“ Georg sah in Gedanken Verena einem Geist das Fürchten lehren. Das sie den Schneid dazu hatte, bezweifelte er nicht eine Sekunde.
„Nein. Doch man darf auch nicht leichtsinnig sein. Man muss sich vor negativen Energien schützen.“
„Du scheinst schon eine Menge erlebt zu haben und bist weit herumgekommen. Gab es denn nie einen Mann oder einen Ort, der dich fesseln konnte?“ Georg erinnerte sich nur zu gut an Verenas Kisten und Taschen, die im ganzen Haus verteilt waren – reisefertig.
„Ja einmal. Doch irgendwann stellte ich fest, das wir unterschiedliche Ansichten einer menschlichen Beziehung hatten. Meine Oma hat mich gewarnt, sie ist irgendwie mein persönlicher Schutzengel“,