Schattenseiten. Kai Kistenbruegger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kai Kistenbruegger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742765833
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Hausmeister war ein Angestellter des Amtes für Wohnungswesen, der neben der kostenlosen Unterkunft ein kärgliches Salär bezog. Der gesamte Gebäudekomplex hielt Sozialwohnungen für die finanziell Benachteiligten der Bevölkerung bereit und strahlte das Flair einer Militärkaserne aus. Die Abwesenheit von Luxus, wie zum Beispiel etwas Farbe oder sogar ein Aufzug, bedeutete jedoch nicht, dass die Gebäude ungepflegt waren. Ganz im Gegenteil, im direkten Vergleich zu dem Loch, in dem Merkmann bis zuletzt gewohnt hatte, stellte sich die Innenansicht der Sozialbauten als geradezu wohnlich dar. Offensichtlich war der Eigentümer der Häuser sehr zufrieden damit, für alle Mieter die Miete zuverlässig in regelmäßigen Abständen vom Staat zu erhalten und hatte sich vollständig vom freien Wohnungsmarkt zurückgezogen, auf dem er grundsätzlich das Risiko einging, Mietbetrügern auf den Leim zu gehen. Jeder einzelne der Bewohner, wie mir der Hausmeister nicht ohne Stolz verriet, bezog sein Geld vom Amt.

      „Wir haben hier noch nie Ärger gehabt“, versicherte er mir und nickte übertrieben heftig. „Oh ja, alles ehrbare Leute hier.” Das Wort ‚ehrbar‘ betonte er hierbei für meinen Geschmack etwas zu stark, um glaubwürdig zu sein. Er versuchte, an mir vorbei die Treppe hinaufzublicken. „Was ist überhaupt passiert?“, lallte er neugierig und leckte sich ereifernd über seine spröden Lippen. „Ein Mord?”

      „Zum laufenden Stand der Ermittlungen kann ich keine Aussagen treffen“, spulte ich routiniert unsere Standardantwort ab, wie an so vielen anderen Tatorten auch. „Vielen Dank für Ihre Kooperation. Falls Sie uns weitere Hinweise geben können, melden Sie sich bitte unverzüglich bei mir.” Ich drückte ihm eine meiner Visitenkarten in die Hand, die zwar nicht einen so strahlenden Titel wie sein Namensschildchen aufwies, aber zumindest klar und deutlich vermittelte, dass ich zur Polizei gehörte. „Bitte gehen Sie jetzt zurück in Ihre Wohnung. Falls wir eine schriftliche Aussage von Ihnen benötigen, melden wir uns bei Ihnen.”

      Ich nickte freundlich aber unverbindlich und ließ den armen Kerl in dem siedenden Saft seiner eigenen Neugier stehen. Er würde uns keine weiteren Informationen geben können; wahrscheinlich konnte er froh sein, wenn er sich am nächsten Tag noch an seinen eigenen Namen erinnerte, so wie jede Pore seines Körpers Alkohol ausdünstete. Während ich die Stufen zu den nächsten Stockwerken emporstieg, schwor ich mir, meinen Alkoholkonsum in Zukunft einzuschränken. Manchmal ist es erschreckend, vor Augen geführt zu bekommen, wohin der Weg führen kann, dem man so manches Mal gedankenlos folgt. Irgendwie regte sich in mir der Verdacht, dass Steinmann mich nur für die Befragung des Hausmeisters auserwählt hatte, um mir genau das vor Augen zu führen. Das würde Steinmann ähnlich sehen, dem alten Wadenbeißer, als kleine Retourkutsche für die Tatsache, dass er mich bei einem Kneipenbesuch erwischt hatte.

      Die Treppe führte mich geradewegs in den zweiten Stock, wo vor einer 08/15 Einheitstür zwei Männer mit kleinen Pinselchen feinen Staub verteilten, um Fingerabdrücke zu finden.

      „Wie ist der Mörder eingedrungen?“, fragte ich einen jungen Kerl, der noch nicht allzu lange bei der Truppe dabei sein konnte und mit seinem Pinsel am Türknauf herumfuhrwerkte.

      „Gewaltsam“, antwortete er knapp, straffte sich aber merklich, als er bemerkte, mit wem er sprach. „Das Türschloss wurde nicht aufgebrochen“, beeilte er sich erklärend zu ergänzen und warf mir einen eingeschüchterten Blick zu. „Das Opfer scheint die Tür geöffnet zu haben, hat aber den Zutritt zur Wohnung mit einer Sicherheitskette blockiert.” Er griff um die Tür herum und zog hinter dem lackierten Holz eine Kette hervor, an der eine deformierte Halterung baumelte. „Das hat den Angreifer allerdings nicht davon abgehalten, trotzdem in die Wohnung zu gelangen“, ergänzte er unnötigerweise.

      Ich schlängelte mich an den Polizisten vorbei und ließ sie ihre Arbeit verrichten. Ich zog ein paar Einweghandschuhe aus meiner Tasche und streifte sie über meine Hände. Im Flur erwartete mich ein Kollege, der mir Plastiküberzieher für meine Schuhe in die Hand drückte. Das war das Standardprozedere an einem frischen Tatort, um die Arbeit der Spurensicherung nicht zusätzlich zu erschweren, indem ich weitere Spuren überall in der Wohnung verteilte. Obwohl ich allen Anschein nach davon ausgehen konnte, dass die Jungs ihre Arbeit weitestgehend abgeschlossen hatten.

      An der Innenseite der Tür klebte Blut. Offensichtlich hatte Thomas Becher beim gewaltsamen Eindringen des Täters die Tür ins Gesicht gerammt bekommen. Eine Blutspur führte mich von der Tür bis ins angrenzende Schlafzimmer. Hier hatte Thomas Becher offensichtlich sein unnatürliches Ende gefunden. Sein Körper lag merkwürdig verdreht halb über das Bett und halb über den Boden drapiert, als wäre er erst einen Moment zuvor rückwärts über das Bett gestolpert. So klein, wie das Schlafzimmer war, war ihm das vermutlich des Öfteren passiert. Neben ihm kniete ein weiterer Mitarbeiter der Spurensicherung.

      In Bechers Brust steckte ein Messer, bis zum Schaft in den Brustkorb gebohrt. Seine Augen starrten anklagend an die Decke. Ich brauchte keinen Mediziner, um zu wissen, dass dafür sehr viel Kraft erforderlich gewesen war. Auch wenn wir beim letzten Opfer DNA Spuren einer Frau gefunden hatten, hielt ich es für sehr unwahrscheinlich, dass diese Spuren von einer Mörderin stammten. Die Frau war mit Sicherheit ein Opfer wie die bisherigen auch. Ohne den Pfad politischer Korrektheit verlassen zu wollen; keine Frau, die ich kannte, wäre in der Lage gewesen, die Eingangstür gegen den Widerstand der Sicherheitskette aufzudrücken und dem Täter trotz der Rippenknochen ein Messer so tief in den Oberkörper zu stechen, dass lediglich der Messergriff noch herausschaute.

      Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, wer neben dem Leichnam kniete. Großkopf. Ich zuckte innerlich zusammen und schlich mich rückwärts aus der Tür, bevor der Gerichtsmediziner meine Anwesenheit bemerkte. Die Flucht vor meinem speziellen Freund trieb mich ins Wohnzimmer, das in der kleinen Wohnung gleichzeitig Küche und Esszimmer darstellte. Der Raum war karg eingerichtet und wies - bis auf eine Couch, einen Esstisch und ein paar kleinere Schränke - kaum Mobiliar auf. Steinmann unterhielt sich mit einem Kerl im Pyjama, der sich in aller Eile lediglich einen Bademantel übergeworfen hatte und angesichts der Ereignisse etwas bleich um die Nase wirkte. Seine Aufmachung verriet mir leider mehr, als ich eigentlich wissen wollte. Seine Pyjamahose war mindestens drei Nummern zu klein und entblößte haarige Männerbeine sowie eine unappetitliche Ausbuchtung in der Leistengegend, die nur dank des wohlgeformten Bauches leidlich verdeckt wurde.

      „Wer ist der Kerl in Schlafmontur?“, flüsterte ich Bobby leise zu, der sich soeben durch die Küchenschränke wühlte. Ich hoffte, zur Beweissicherung, und nicht, um irgendetwas zu essen zu finden.

      „Der Sozialarbeiter. Er wohnt direkt über dieser Wohnung“, erwiderte Bobby knapp, ohne vom Kühlschrank aufzublicken.

      „Dann hat er vielleicht etwas gehört!“, stellte ich interessiert fest und zog Bobby von seiner fragwürdigen Beschäftigung weg, ein paar Schritte weiter in den Einflussbereich der Unterhaltung.

      „Ah“, machte Steinmann und lächelte unberührt. Steinmann bewies insofern Klasse, dass er unseren Disput nicht öffentlich vor potenziellen Zeugen austrug. „Darf ich Ihnen den zweiten Ermittler vorstellen, der mit dem Fall betraut ist? Erik Bachmann!“

      Der Mann im Schlafanzug streckte mir seine Hand entgegen. Sein Händedruck war erfreulich fest. „Gregor Decker!“, sagte er mit fester Stimme. „Ich bin der Sozialarbeiter, der für Thomas Becher zuständig ist.” Er stutzte. „Ich meine, war“, korrigierte er, sichtlich betroffen.

      „Verstehe ich nicht“, warf Bobby irritiert ein, ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Mannes zu nehmen. „Bekommt jetzt jeder Obdachlose ein Kindermädchen gestellt?”

      „Nein, natürlich nicht“, erwiderte Decker nonchalant, ohne mit der Wimper zu zucken. Er war es offensichtlich gewöhnt, dämliche Fragen beantworten zu müssen. „Bei diesem Haus handelt es sich um ein Pilotprojekt, an dem neben Thomas Becher vier weitere Kandidaten teilnehmen. Sie wurden aufgrund ihres noch jungen Alters ausgewählt, um sie im Rahmen eines intensiven Betreuungsprogramms zurück in ein normales, produktives Arbeitsleben zu überführen.”

      Deckers Erklärung klang irgendwie auswendig gelernt. Aber wahrscheinlich traf das auch zu, und seine Ausführungen waren nichts anderes als gesprochene Versionen einer wohl formulierten Pressemitteilung.

      „Ihnen wurden Sozialwohnungen