Steinmann nickte. „Das ist der Grund, warum ich eine Verbindung zu unserem Fall nicht ausschließen möchte. Thomas Becher war der einzige Mensch auf Erden, der unseren Täter hätte identifizieren können. Ein paar Tage später ist er tot. Das ist kein Zufall.“
„Vorausgesetzt, es handelt sich bei dem Täter um unseren Mörder“, warf ich ein, „dann hat er sein Schema gewechselt. Er hat sich weder die Zeit genommen, Thomas Becher zu quälen, noch hat er sich bei der Wahl seiner Todesart von Bechers Straftaten leiten lassen, wie bei den anderen beiden Opfern.”
Als mich die anderen mit großen Augen anstarrten, ergänzte ich erklärend: „Na ja, der Drogendealer wurde mit einer Überdosis ermordet, der mutmaßliche Kinderschänder durch Kastration. Wir wissen zwar noch nicht, nach welchen Kriterien er seine Opfer aussucht, aber offensichtlich scheint sich unser Täter darüber Gedanken zu machen, welche Strafe für seine Opfer und ihre Straftaten angemessen ist. Nur Thomas Becher passt nicht ins Bild.“
„Du hast auffallend Recht!“, bemerkte Bobby erstaunt. „So habe ich die ganze Sache noch gar nicht betrachtet!” Er patschte mit seiner Pranke laut auf die Tischplatte. Er sprang auf und eilte zu einem kleinen Beistelltisch, auf dem er einen Haufen Akten in zwei unordentlichen, unsortierten Stapeln abgelegt hatte. Mit hektischen Bewegungen blätterte er durch die obersten beiden Mappen. „Als ich das erste Mal durch die Akten gegangen bin, habe ich der Tatsache nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber wenn die Art des Mordes tatsächlich mit dem Grund ihrer Anklage zusammenhängt, erscheint doch alles in einem anderen Licht“, stammelte er atemlos. „Aha!“, machte er und bohrte seinen Finger in das Papier vor seinen Augen. „Tatsächlich. In beiden Fällen, sowohl bei Bauer, als auch bei Merkmann, wurden die Anklagen vor Gericht von dem gleichen Staatsanwalt vertreten. Heinz Bohrmann.” Er lächelte triumphierend.
Steinmann schob seine Antenne zusammen und trat hinter Bobby, um einen Blick auf die Akte werfen zu können. „Ein Staatsanwalt, der eine sicher geglaubte Verurteilung verliert“, überlegte er murmelnd. „Ich weiß nicht, klingt in meinen Ohren ein bisschen zu sehr an den Haaren herbeigezogen.” Er seufzte laut auf. „Aber diese Verbindung ist alles, was wir haben.” Er nickte gedehnt. „Okay, fühlen Sie dem Anwalt auf den Zahn“, sagte er und warf Bobby und mir einen warnenden Blick zu. „Aber beweisen Sie Taktgefühl. Ich habe keine Lust, mich wegen Amtsanmaßung selbst auf dem Anklagestuhl wieder zu finden. Ganz davon abgesehen, dass die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft auch in unserer Ermittlung die Leitung innehat. Wir müssen vorsichtig sein, bevor wir jemand der Befangenheit bezichtigen.”
„Geht klar, Chef“, bestätigte ich mit der befreienden Erleichterung, endlich die Gelegenheit zu erhalten, meinen Fauxpas von gestern auszubügeln. Ich war mit Bobby im Schlepptau aus der Tür, bevor Steinmann es sich anders überlegen konnte.
2 Tage danach
Am liebsten wäre ich auf ewig im Krankenhaus geblieben, obwohl ich aus medizinischer Sicht als entlassungsfähig eingestuft worden war. Solange ich in meinem Krankenhausbett lag, mit dem stechenden Geruch von Antiseptika in der Luft und dem permanenten, monotonen Gemurmel der Ärzte, Schwestern und Patienten im Hintergrund, konnte ich mich hinter den Betonwänden meiner Krankenstation vor der grausamen Realität verstecken. Das Leben im Krankenhaus folgte den Gesetzen und Regeln einer ganz eigenen Welt. Herausgerissen aus meinem normalen Leben, wurde mein Tagesablauf plötzlich von den Ärzten sowie durch die Terminpläne meiner Untersuchungen und Behandlungen bestimmt, nur von Zeit zu Zeit durch die regelmäßigen, aber geschmacklich anspruchlosen Mahlzeiten unterbrochen. In dem eng getakteten Krankenhausalltag blieb mir nicht viel Zeit, mich mit mir selbst und mit meinem Verlust zu beschäftigen. Doch als die Ärzte mir meine Entlassungspapiere aushändigten, schubsten sie mich zurück in ein Leben, das diesen Namen nicht mehr verdient hatte. Vor den Türen des Krankenhauses wartete nichts mehr auf mich, worauf ich mich hätte freuen können. Mein Leben lag ausgebreitet in Trümmern vor mir, und ich stand alleingelassen vor den Überresten meiner einstigen Hoffnungen und Träume. Als die Verzweiflung in mir aufwallte, brodelnd wie ein Vulkan, fühlte es sich an, als würde es mich innerlich zerreißen. In meiner Brust wurde ein Kampf ausgefochten, an dessen Ende ich entweder meinen emotionalen Verletzungen erliegen, oder gestärkt aus diesen Erfahrungen heraustreten würde. In diesem Moment wünschte ich mir jedoch nichts sehnlicher herbei, als die alles erstickende, barmherzige Umarmung eines schnellen Todes.
Ich nahm die Straßenbahn zu unserer Wohnung. Um mich herum schnatterten unzählige Stimmen, Pendler, die ihren Weg nach Hause antraten, um ihren Tag behütet zwischen ihren Familien ausklingen zu lassen. Es fühlte sich geradezu pervers normal an, zwischen all den anderen Menschen in der Straßenbahn zu stehen, als wäre ich einer von ihnen. Doch das war ich nicht. Ich hatte niemanden mehr, zu dem ich hätte fahren können, und ich allein trug die Schuld daran. Meine Wohnung bot nichts anderes mehr als schmerzhafte Erinnerungen an Sandra, sowie noch schmerzhaftere Erinnerungen an ihren gewaltsamen Tod.
Ich starrte in ausdrucklose, erschöpfte Gesichter und fragte mich, was die anderen Fahrgäste bei meinem Anblick dachten. Dachten sie überhaupt etwas, irgendetwas? Dachten sie darüber nach, welche Schicksalsschläge ich hatte erleiden müssen, was für ein Leben ich führte, oder sahen sie in mir lediglich einen der ihrigen, einen Pendler auf dem Weg nach Hause, ein anonymes Gesicht in der anonymen Masse? Hatte sich ihr Leben verändert, nur weil mein Leben vollständig aus den Fugen geraten war? Wahrscheinlich nicht. Mein Leid war unbedeutend angesichts der Unendlichkeit des Universums.
Aber warum fühlte es sich nicht so unbedeutend an? Warum musste ich jede Sekunde, jeden wachen Augenblick an Sandra denken, bis es mir das Herz zerriss, und ich fürchten musste, inmitten all dieser fremden Menschen in Tränen auszubrechen? Warum war der Schmerz derart allgegenwärtig, dass die ganze Welt unter einem trüben, grauen Schleier der Verzweiflung verschwamm und jegliche Farbe, jede Freude aus meinem Leben entwichen war? Wie sollte ich noch die Kraft aufbringen, dieses graue, farblose Leben weiterzuleben?
Ich fand keine Antworten auf diese Fragen. In mir klaffte ein tiefes Loch. Ich wusste nicht, womit ich dieses Loch jemals würde füllen können.
Als ich an meiner Haltestelle aus der Straßenbahn stolperte, fühlte ich die Augen der anderen Fahrgäste, wie sie sich in meinen Rücken bohrten und jede meiner Bewegungen verfolgten. Vielleicht hatte ich doch geweint, ohne es selbst zu merken. Ihr Mitleid hielt jedoch mit Sicherheit nicht länger an als ein paar Sekunden. Als die Straßenbahn ihre Fahrt fortsetzte, hatten sie mich wahrscheinlich schon längst vergessen.
Ich vermisste Sandra mit jeder Zelle meines Körpers. Nichts konnte die Schuld von mir nehmen, die wie ein Bleigewicht an meinem Herzen zerrte. In einem nicht enden wollenden Gedankenkarussell fragte ich mich ständig dieselben Fragen. „Warum ist es so weit gekommen? Wann habe ich diese dünne Linie überschritten, hinter der ihr Schicksal unabwendbar geworden und wie eine Lawine unaufhaltsam ins Rutschen gekommen war? Wie sollte es weitergehen? Ja, es war meine Schuld, alleinig meine Schuld! Ich hätte es in der Hand gehabt, der Lawine Einhalt zu gebieten, doch ich hatte den richtigen Zeitpunkt ungenutzt verstreichen lassen, bis unser beider Leben zwangsläufig den Höhepunkt in diesem grausamen Moment finden musste.
Als ich vor der Wohnungstür stand, wurde mir schlagartig bewusst, dass tatsächlich kein Weg mehr zurück in mein altes Leben führte. An der Tür klebte gelb leuchtend ein Polizeiabsperrband, das mir den Weg zurück versperrte, und meine Vergangenheit hinter einem dünnen Klebeband versiegelte. Ich konnte nirgendwo mehr hin, zumindest solange, wie meine Wohnung als offizieller Tatort gebrandmarkt war.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich vor dieser Tür stand. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte; also blieb ich einfach stehen, bewegungslos, ratlos. Es konnten Minuten, Stunden, aber auch Tage gewesen sein, die ich auf der Schwelle zu meiner Wohnung verbrachte, absolut unfähig, eine Entscheidung zu treffen.
Erst als mir jemand sanft eine Hand auf die Schulter legte, wurde ich aus meiner Trance gerissen. Erschrocken fuhr ich herum, doch der Mensch hinter mir verschwamm hinter einem Vorhang aus Wasser. Ohne es zu merken, hatte ich wieder geweint. Ich wischte mir verschämt die Tränen aus den Augen, bis sich mein Blick so weit klärte, dass ich in dem undeutlichen