Schattenseiten. Kai Kistenbruegger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kai Kistenbruegger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742765833
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gibt es überhaupt so viele Obdachlose?“, fragte eine Stimme hinter uns interessiert. Großkopf! Er hatte sich unbemerkt in den Raum geschlichen und drängte sich in unseren kleinen Gesprächskreis. Mit vier ausgewachsenen Männern war das winzige Wohnzimmer eindeutig überfüllt und ich spürte, wie der Gerichtsmediziner meine Wohlfühlgrenze erneut verletzte. „Sollte es in einem Sozialstaat nicht ausgeschlossen sein, dass Leute auf der Straße leben müssen?“

      „Tja“, machte Decker, nicht im Geringsten irritiert von dem plötzlich hinzugestoßenen Gesprächsgast. Offensichtlich genoss er sogar die ungewohnte Aufmerksamkeit. „Sollte man annehmen, aber die Realität zeigt, dass dem nicht so ist. Dafür gibt es aber viele Gründe.” Er hob eine Hand und tippte einzeln auf die Finger, als würde er vor Kindern einen Abzählreim aufführen. „Erstens gibt es immer weniger sozialverträgliche Wohnungen bei einer steigenden Anzahl von Berechtigten.“

      „Sie reden von günstigen Wohnungen“, hakte Steinmann nach.

      „Ja, wenn Sie es so ausdrücken wollen; aber im Grunde geht es dabei um Sozialwohnungen, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden und einen festgelegten Maximalmietzins nicht überschreiten dürfen.”

      Er spreizte einen weiteren Finger ab. „Außerdem ist Sozialhilfe mit Bürokratie verbunden. Viele der Obdachlosen sind allerdings mit dem bürokratischen Aufwand schlichtweg überfordert. Einige können weder lesen noch schreiben, oder schämen sich wegen ihrer desolaten Lage zu sehr, um zum Amt zu gehen.”

      Finger Nummer drei.

      „Andere wiederum wählen die Obdachlosigkeit als Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft, wahrscheinlich aus einer falsch verstandenen Definition von Freiheit heraus.” Decker stellte überrascht fest, dass er die anderen Finger nicht mehr benötigte und ließ seine Hand sichtlich enttäuscht sinken.

      „Wie dem auch sei, unser Programm richtet sich natürlich an die Personen, die nicht durch eigenen Wunsch auf der Straße gelandet sind und Chancen auf eine Wiedereingliederung besitzen.” Er lächelte überlegen, als wäre er Mutter Theresa persönlich. „Unsere Erfolgsquote mit den ersten Kandidaten ist bis jetzt relativ hoch, von ein paar Ausnahmen abgesehen.“

      „Was ist mit Thomas Becher?“, fragte ich. „Wie hat er sich in dem Programm entwickelt?” Ich musste an den heruntergekommenen Jugendlichen denken, den ich vor vielen Jahren mehrmals in die Zelle stecken musste. Ich hätte niemals erwartet, dass Thomas Becher tatsächlich noch einmal die Kurve kriegen würde. Aber offensichtlich war dem auch nicht so; schlagartig verschwand der anmaßende Gesichtsausdruck aus Deckers Gesicht.

      „Becher war leider einer der Kandidaten, der an dem Programm zu scheitern drohte.” Missmutig starrte Decker an uns vorbei, auf eine kleine Kommode, die hinter uns stand. „Bei einer meiner Stippvisiten habe ich bei ihm Geld und Schmuck gefunden. Er wollte mir nicht sagen, woher es stammte. Aber es war mit Sicherheit nicht auf legalem Wege zu ihm gelangt.“

      „Wo ist der Schmuck jetzt?“, fragte Bobby.

      „Hier.” Decker drängte sich an uns vorbei und zog die oberste Schublade der Kommode auf. Glücklicherweise zwängte er sich auf diese Weise zwischen mich und Großkopf, der mir schon wieder bemerkenswert dicht auf die Pelle gerückt war. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich vermutet, er würde mir Avancen machen, obwohl er verheiratet war – mit einer Frau.

      Die Schublade war leer, bis auf ein paar goldene Ringe und ein alt aussehendes Collier, das sicherlich ein paar Euro wert war.

      „Sollten die Schmuckstücke aus einem Diebstahldelikt stammen, werden wir das herausfinden“, polterte Steinmann hinter uns selbstbewusst. „Was wissen wir zum Tathergang?” Seine Frage war an Großkopf gerichtet, der mit großen Augen in die Schublade starrte. „Nicht viel“, stellte Großkopf fest. „Alle Blutspuren scheinen vom Opfer zu stammen. Die Todesursache war eindeutig die Verletzung durch das Messer. Kurz und schmerzlos. Der Täter war wahrscheinlich kaum länger als fünfzehn Minuten in der Wohnung.“

      „Eigentlich können es nur ein paar Minuten gewesen sein“, warf Decker vorsichtig ein. Er musterte uns eingeschüchtert.

      „Was meinen Sie damit?“, fragte Bobby irritiert.

      „Ich bin von einem lauten Knall wach geworden“, berichtete Decker mit stockender Stimme. „Ich hörte Schreie, konnte aber nicht verstehen, wer mit wem stritt, oder was der Grund für den Streit war.” Fassungslos starrten wir ihn an. Kaum zu glauben, dass er erst jetzt mit dieser Information herausrückte.

      „Zuerst dachte ich, zwei unserer Bewohner hätten sich in den Haaren, aber die Geräusche machten mir Sorgen“, fuhr er fort. „Es hörte sich beinahe so an, als ginge es um Leben und Tod.”

      „Was ja auch offensichtlich so war“, stellte Bobby mit bösem Blick auf Decker fest.

      „Ja“, bestätigte Decker kleinlaut. „Jedenfalls habe ich mir meinen Bademantel übergeworfen und bin die Treppe hinuntergelaufen. Die Haustür zu der Wohnung stand sperrangelweit offen. Vom Streit war nichts mehr zu hören.“

      „Und, haben sie etwas gesehen?“, fragte ich aufgeregt.

      „Eher gehört, einen Mann, wie er die Treppe im Hausflur hinunterhetzte. Ich konnte ihn allerdings nur von oben sehen. Er trug eine schwarze Skimütze und einen schwarzen Pullover. Er war jedoch aus der Tür, bevor ich einen Blick auf sein Gesicht werfen konnte.“

      „Wie lange ist das jetzt her?“, fragte Steinmann, sichtlich bemüht, die Fassade des gesitteten Polizisten aufrecht zu erhalten, obwohl ich sehen konnte, wie die Wut in ihm bereits wieder hochkochte.

      „Weiß nicht. Zwei Stunden, schätzungsweise. Ich habe sofort danach die Polizei gerufen.“

      „Mein Gott, dann war der Kerl vielleicht noch in der Nähe, als die ersten Streifenwagen hier eintrafen“, stellte Steinmann fassungslos fest und wurde bleich. „Warum haben Sie diese Informationen bei Ihrem Notruf nicht weitergeben? Wieso haben Sie nicht vorher gesagt, dass Sie den Kerl noch gesehen haben?“

      Decker entgleisten alle Gesichtszüge. „Ich war völlig durch den Wind“, stotterte er. „In der Wohnung lag eine Leiche und ich, ich,….” Er verstummte und schluckte nervös seine aufkeimende Panik hinunter. Offensichtlich wurde ihm gerade bewusst, dass er dem Mörder ungewollt zur Flucht verholfen hatte.

      „Vielleicht ist er noch in der Gegend“, warf ich ein, um Steinmanns Zorn von Decker abzulenken.

      „Ach, was“, brummte Bobby ungnädig. „Wenn der Kerl schlau ist, ist er längst über alle Berge.”

      „Keine Spekulationen!“, zischte Steinmann. „Ich will, dass die ganze Gegend abgefahren wird.” Er zeigte auffordernd auf mich. „Schnappen Sie sich ein paar Polizisten und suchen Sie die nähere Umgebung ab. Suchen Sie nach möglichen Fluchtrouten! Vielleicht hat der Täter auf seiner kopflosen Flucht etwas verloren.” Er atmete tief durch, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. „Schaffen Sie mir irgendetwas herbei, mit dem wir diesem Bastard zur Strecke bringen können.“

      19 Tage davor

      Der neue Tag begann, wie der vergangene aufgehört hatte. Ich hatte schlechte Laune. Wie zu erwarten gewesen war, hatte die Umfeldsuche rund um Bechers Wohnung keine verwertbaren Resultate ergeben. Wir konnten mangels Zeugen noch nicht einmal definitiv festhalten, ob der Mörder mit Auto, Straßenbahn oder zu Fuß geflohen war, geschweige denn, welchen Weg er auf seiner Flucht eingeschlagen hatte. Düsseldorf war einfach zu groß. In den unzähligen Straßen, Gassen und Trampelfaden die kalte Spur eines flüchtigen Täters finden zu wollen, grenzte beinahe an Wahnwitz.

      Auch wenn es die Jungs von der Stadtreinigung wahrscheinlich gefreut hätte, fühlte sich verständlicherweise keiner von uns berufen, unter dem Unrat und Müll des vergangenen Tages nach Spuren zu suchen, die ein Täter unter Umständen, vielleicht und auch nur eventuell auf der Straße hinterlassen haben könnte. Diese Aktion hatte das Potenzial, sowohl die Spurensicherung über Jahre zu beschäftigen, als auch den öffentlichen Haushalt für