„Du wirst sehen, wir zwei werden die Situation schon gemeinsam schaukeln. Meine Wohnung ist groß genug für zwei!“ Seine Stimme brach. Ob es meine Trauer war, die ihn zum Schweigen brachte, oder die eigenen, schmerzhaften Erinnerungen an Marie, spielte keine Rolle. Es waren Wochen vergangen, und trotzdem waren seine eigenen Wunden immer noch so frisch wie die meinen. Er hatte lediglich gelernt, sein Leben weiterzuleben, ohne daran zu verzweifeln. Vielleicht würden wir es gemeinsam schaffen, diese schreckliche Zeit hinter uns zu lassen. Irgendwie. Bobby war auf jeden Fall der einzige Mensch, der mir noch geblieben war. Sandra war von mir gegangen, genau wie meine Eltern ein paar Jahre zuvor.
„Du kannst auf dem Sofa schlafen“, nahm er seinen Faden wieder auf, nachdem er ein paar Sekunden seinen eigenen, düsteren Gedanken nachgehangen hatte. „Du kannst so lange bleiben, wie du willst.” Er zuckte mit den Achseln. „Falls es dir nicht ausmacht, neben einem Kerl zu schlafen, kannst du auch die rechte Hälfte vom Doppelbett haben. Glaub mir, die ersten Nächte können sehr einsam sein.” Er versuchte ein Lächeln, das aber lediglich zu einer beängstigenden Grimasse verkümmerte. „Nur Kuscheln ist nicht drin, damit wir uns nicht falsch verstehen!“
„Schon gut“, murmelte ich. „Das Sofa wird seinen Zweck erfüllen.”
Er verfrachtete mich in den Dienstwagen, mit dem er die meiste Zeit herumfuhr. Ich bevorzugte in Düsseldorf die öffentlichen Verkehrsmittel, die mich schneller und sicherer ans Ziel brachten als eine dieser fahrbaren Schuhschachteln, mit denen die Autofahrer sowieso die meiste Lebenszeit stehend im Stau verbrachten. Im Moment war ich allerdings froh, nicht mehr unter die missbilligend glotzenden Augen der Düsseldorfer Straßenbahnbenutzer treten zu müssen. Ich verfolgte mit meinen Augen Bobby, der geknickt ums Auto zur Fahrerseite trottete. Bobby hatte seinen Kummer bisher mit Alkohol ertränkt, aber das war keine Lösung, zumindest für mich.
Ich konnte es mir nicht leisten, mich derart gehen zu lassen, jeder Tag ein weiterer Kampf gegen die eigenen Dämonen, ohne Aussicht auf Besserung. Das war kein Leben. Sandra war tot, ja, aber irgendwie musste ich einen Weg finden, mit meinem Leben ohne sie weiterzumachen. Ich wusste noch nicht wie, aber ich würde es angehen müssen, wie einen Marathonlauf. Ein Schritt nach dem anderen, Meter für Meter. Ich musste in dieser Situation einen klaren Kopf bewahren. Ich musste zurück ins Spiel, wenn ich irgendwie körperlich und geistig heil aus dieser Sache herauskommen wollte. Ich hatte gar keine andere Wahl. Mir blieben nur zwei Optionen: Selbstmord, oder aber die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. Ich war noch nicht so weit, mich selbst umbringen zu wollen, auch wenn ein Teil in mir sich das wünschte.
„Ich will zurück!“, stellte ich mit fester Stimme fest.
„Was?“, fragte Bobby irritiert, während er noch am Sicherheitsgurt herumfummelte. „Was willst du?“
„Der Fall. Ich bin wieder dabei!“
Bobby starrte mich entsetzt an. Seine Hand ruhte auf dem Zündschlüssel, ohne den Wagen zu starten. „Bist du sicher?“, hakte er vorsichtig nach, als würde er auf rohen Eiern tanzen. „Ich meine, Steinmann wird das kaum zulassen. Du bist jetzt persönlich betroffen…“
„Das ist mir egal!“, fiel ich ihm wütend ins Wort. „Vor zwei Tagen wurde meine Frau ermordet! Das ist mein Fall! Ich werde nicht zu Hause sitzen bleiben, während ihr euch auf die Suche nach ihrem Mörder macht. Du hast die Wahl: Entweder hilfst du mir, oder ich mache es alleine.” Ich funkelte ihn böse an.
„Nun gut“, seufzte er. „Ich werde bei Steinmann ein gutes Wort für dich einlegen.” Er drehte sich zu mir um und hob drohend den Finger. „Aber du reißt dich zusammen. Ich werde nicht meinen Arsch für dich hinhalten, wenn du Mist baust! Keine Rachenummer, kein Feldzug! Klar?“
„Alles klar“, sagte ich erleichtert. „Danke, Bobby.”
„Ich hoffe, ich bereue meine Entscheidung nicht“, grummelte er und startete den Motor. „Aber erst einmal wirst du duschen, eine Nacht schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.” Er hielt inne. Mit einer ruckartigen Bewegung drehte er den Zündschlüssel wieder um und würgte den Motor brutal ab. „Da ist noch etwas, was du wissen solltest“, sagte er und ließ seine Hände in den Schoß sinken. „Erik, es gibt keine leichte Art, das zu sagen, deswegen sage ich es geradeheraus.” Er atmete tief ein. Seine rechte Hand krallte sich in seinen Oberschenkel, so dass seine Knöchel weiß hervortraten.
„Sandras Obduktionsbericht ist gestern fertig geworden. Sie ist erwürgt worden. Auf ihrer Brust wurde ein ‚R’ eingeritzt, wie bei den anderen Opfern.” Er atmete jetzt schneller. Ich bekam fast Angst, er würde anfangen zu hyperventilieren. „Da ist aber noch etwas…“, besorgt blickte er mir tief in die Augen, als versuchte er zu ergründen, wie viel ich noch ertragen konnte. Nach ein paar Sekunden schien er zu dem Schluss zu kommen, meiner emotionalen Last noch ein paar Zentner aufbürden zu können; jedenfalls sprach er weiter: „Es ist so“, stammelte er, seufzte tief und sagte: „Kurz vor ihrem Tod hatte Sandra Geschlechtsverkehr.“ Er verstummte, jedoch zu kurz, um reagieren zu können. „Der Gerichtsmediziner hat in ihrem Vaginalgang Sperma gefunden. Und es stammt nicht von dir.“
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