Schattenseiten. Kai Kistenbruegger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kai Kistenbruegger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742765833
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      Ich kratzte gedankenverloren an meinem Kopf, als ich versuchte, mich an mein letztes Zusammentreffen mit Becher zu erinnern. „Eigentlich hatten wir ihn von der Straße geholt. Richterlich angeordnet ist er vor ein paar Jahren in eine Einrichtung für betreutes Wohnen eingeliefert worden, da er zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig war.“ Ich überflog seine Strafakte bis zum Ende. „Seitdem ist er nicht mehr straffällig geworden. Keine Ahnung, warum er sich ausgerechnet in Merkmanns Wohnung aufgehalten hat.“

      Ich legte die Akte ab. „Soweit ich weiß, hat er es in dieser Einrichtung nur zwei Wochen ausgehalten und ist danach wieder untergetaucht.“ Ich überlegte kurz. „Ich frage mich, was aus ihm geworden ist. Ich kenne ein paar der Obdachlosen, mit denen er früher herumgehangen hat. Dort kann ich nachhaken, ob sie mehr wissen. Das dürfte schneller gehen, als über das Sozialamt, falls die überhaupt irgendetwas wissen.“

      „Gut. Tun Sie das“, nickte Steinmann, „das spart vielleicht etwas Zeit. Ich werde parallel dazu beim Sozialamt nachfragen, ob mittlerweile ein fester Wohnsitz bekannt ist.“

      „Sonst noch was?“, warf Bobby ein. „Irgendetwas von der Spurensicherung? Ich will mich ja nicht beschweren, aber ich würde auch gerne in irgendeiner Form zum Fahndungserfolg beigetragen.“ Er sprach den nächsten Nebensatz nicht aus, obwohl wir beide wussten, dass er ihn dachte: „…bevor ich wieder in der Kneipe versacke.“

      „Mal sehen“, murmelte ich und nahm mir meine dicke Lektüre wieder vor. „Es gibt mehr als genügend Fingerabdrücke, die in den meisten Fällen Merkmann zugeordnet werden konnten.“ Ich nickte zufrieden. „Das passt. An der Tür fanden sich ebenfalls Abdrücke von Thomas Becher.“ Ich stutzte. „Das hier interessant“, sagte ich, und tippte mit dem Zeigefinger auf die passende Stelle. „An der Tür fanden sich Spuren eines Einbruchs, sehr professionell ausgeführt. Der Schließzylinder war nicht beschädigt.“

      „Der Mörder?“, fragte Bobby.

      „Unwahrscheinlich“, überlegte ich. „Warum sollte er sich die Mühe machen, auf diese Art und Weise an Merkmann heranzukommen? Es dürfte leichtere Wege geben, jemanden umzubringen. Nein, der Mörder hat entweder geklingelt, oder hat die Wohnung zusammen mit Merkmann betreten, darauf würde ich wetten.“

      Ich nahm einen Schluck von meinem kalten Kaffee. „Ich würde auf Becher tippen. Er wäre ein Kandidat für den Einbruch, zumindest ist er mehrmals deswegen auffällig geworden. Ich vermute, er ist in die Wohnung eingedrungen, bevor der Mörder und Merkmann aufgetaucht sind. Wahrscheinlich wurde er überrascht und musste sich deswegen im Wandschrank verstecken.“

      „Mist“, grummelte Bobby. „Wenn der Kerl selbst Dreck am Stecken hat, wird er kaum sonderlich motiviert sein, uns weiterzuhelfen.“

      „Ja“, bestätigte ich gedankenverloren. Meine Aufmerksamkeit wurde gerade von einem Abschnitt im Bericht gefesselt, der sich mit der Tatwaffe beschäftigte. „Das hier ist wirklich interessant“, platzte es aus mir heraus. „An der Tatwaffe wurde nicht nur das Blut Merkmanns gefunden, sondern ebenfalls das Blut einer weiteren Person.“

      Bobby rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl nach vorne. „Irgendwelche Treffer?“

      „Nein, nichts in unserer Datenbank. Aber es wird noch besser: Das Blut stammt von einer Frau.“

      Steinmann atmete scharf ein. „Der Täter ist eine Frau? Das wäre in der Tat ungewöhnlich.” Er ließ sich auf den Stuhl direkt gegenüber fallen und starrte nachdenklich aus dem Fenster. „Außergewöhnlich“, murmelte er.

      Es mag dem männlichen Geschlecht nicht sonderlich gefallen, aber in der Geschichte der Kriminalistik sind hauptsächlich Männer für Serienmorde verantwortlich. Nur in einem Bruchteil der Fälle konnten Frauen als Täter überführt werden.

      „Wir sollten nicht vergessen, dass das Blut ebenso von einem früheren Opfer stammen könnte“, warf ich ein. „Ehrlich gesagt, halte ich das sogar für wahrscheinlicher, da die Spuren auf der Klinge und nicht auf dem Griff gefunden wurden.“

      „Ja, mag sein“, grübelte Steinmann. „Wir sollten trotzdem keine Möglichkeit außer Acht lassen.“

      „Es ist schon auffällig, dass er die Waffe überhaupt am Tatort gelassen hat“, warf ich ein. „Vielleicht will der Täter uns damit einen Hinweis geben; vielleicht mit vergangenen Taten prahlen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Serientäter auf diese Weise seine Überlegenheit demonstrieren will.“

      „Oder er will uns verwirren“, überlegte Bobby. „Von wegen, Änderung der Vorgehensweise und so.“

      Steinmann drehte sich zu Bobby um. Der Drehstuhl quietschte kläglich bei der Bewegung. „Das werden wir erst erfahren, wenn wir die DNA-Spuren einer Person zuordnen können. Sie werden sich durch die Vermisstenanzeigen der letzten Wochen wühlen. Finden Sie heraus, ob irgendwo eine Frau als vermisst gemeldet wurde.“

      Ein zufriedenes Lächeln umspielte Bobbys Lippen. Er war sichtlich froh, endlich etwas zu tun zu bekommen.

      „Und überprüfen Sie ebenfalls die Gerichtsakten der letzten zwei Jahre. Wenn es einen ähnlich gelagerten Fall wie bei Bauer oder Merkmann gegeben hat, bei dem eine Frau vom Gericht freigesprochen wurde, will ich das wissen.“ Er starrte uns erwartungsvoll an. „Worauf warten Sie noch? Ich erwarte bis heute Abend Ergebnisse!“

      20 Tage davor

      Wie jeder andere Bahnhof ist der Düsseldorfer Hauptbahnhof ein Schmelztiegel für Menschen unterschiedlichster Couleur und Gesinnung, abhängig davon, zu welcher Tages- und Nachtzeit man auf die Idee kommt, dem grauen Betonklotz im Herzen der Stadt einen Besuch abzustatten.

      Zur frühen Morgen- und Abendstunde beherrschen die Pendler den Bahnhof, die es in alle denkbaren Himmelsrichtungen zu ihren Arbeitsplätzen oder nach Hause treibt. Sie hetzen auf dem Weg zu ihren Anschlusszügen durch die breiten Gänge, gefangen in einer beängstigenden, alltäglichen Routine der Monotonie. Mit ihrer Tageszeitung unter dem Arm und mit dem dampfenden Kaffee in der Hand, wühlen sie sich durch das Gedränge vor den Zügen, um einen der begehrten, hart umkämpften Sitzplätze zu ergattern. Tagsüber hingegen wird der Bahnhof nur von vereinzelten Fahrgästen frequentiert, die keinem Termindruck unterliegen und entspannter reisen als die Pendler. Oftmals sind es Touristen oder Geschäftsreisende, die unserer schönen Stadt einen Besuch abstatten, oder ein paar verlorene Seelen, die ziel- und heimatlos in der Stadt umherirren.

      Am späten Abend jedoch, kurz vor Einbruch der Nacht, zeigt der Hauptbahnhof sein wahres Gesicht. Abends verkommt der Bahnhof zum Revier derjenigen, die sich die kalten Gänge zu ihrem Zuhause auserkoren haben. Zwischen den zahlreichen Putzkolonnen und den regelmäßigen Patrouillen der Bahnhofssicherheit suchen sie nach einem Plätzchen in der Welt, an dem sie ungestört für ein paar Minuten ihren kalten Frieden finden können. Dieses Leben ist ein Leben am Rande der Gesellschaft, ein Leben in einer rechtlichen Grauzone. Wenn sie nicht aus der Not heraus bereits straffällig geworden sind, finden sie sich immer öfter vor Gericht wieder, weil die Bahn sie wegen Hausfriedensbruch vor den Kadi schleift. Vielen von ihnen ist bereits ein Hausverbot erteilt worden, das sie jedoch weder abschreckt, noch daran hindert, wiederzukommen. Als würde der graue Klotz sie magisch anziehen, treibt es sie immer wieder zurück, weil der Bahnhof ihr einziger Zufluchtsort in einer Stadt voll von einsamen Menschen ist.

      Als ich an jenem Tag den Bahnhof erreichte, war die große Welle der Pendler bereits zu einem schwachen Strom abgeebbt. Zu dieser Tageszeit versteckten sich die Obdachlosen noch außerhalb der großen Bahnhofshalle vor dem unerbittlichen Sicherheitsdienst, der in den vergangenen Jahren immer weniger Kulanz mit den verlorenen Existenzen der menschlichen Zivilisation walten ließ. Die Deutsche Bahn hatte inzwischen eine beeindruckende Wandlung vom Staatskonzern zu einem kundenorientierten Unternehmen vollzogen, dessen Kunden sich in ihrer heilen Welt zunehmend gestört fühlten, wenn sie auf dem Weg zu ihren Zügen wegen ein paar Euros angebettelt wurden.

      Ich hatte am Anfang meiner Karriere in diesem Umfeld einige Jahre als Streifenpolizist Dienst geschoben. Diese wenige Jahre hatten bei mir ihre Spuren