„Welchen Frieden?“
„Für unser Volk!“
„Ist denn Krieg mit unserem Volk?“ Dies war die Frage, auf die Yasemin nie eine Antwort erhalten hatte. Egal, wie überzeugend sie mit ihren großen Haselnussaugen auch schaute – die Eltern schwiegen.
Das Geschäft, das ihr Vater in Ankara aufgebaut hatte, war erfolgreich gewesen – zu erfolgreich. Die Konkurrenten hatten Wind von der Abstammung der Familie bekommen und beschuldigten sie, der Führungsriege der PKK anzugehören. In Windeseile hatte ihr Vater versucht, ihre Flucht zu arrangieren. An dieser Stelle gerieten Yasemins Erinnerungen für gewöhnlich in einen Hagel schlimmer Bilder: der Lastwagenfahrer, der bestochen wurde, sie alle nach Deutschland zu bringen. Die Verhaftung ihrer Mutter kurz vor der Abfahrt. Ihr Vater, der von der Ladefläche sprang und brüllte: „Fahrt los!“ Der Kerl, der den Brummi lenkte, und dann auch um sein eigenes Leben fuhr. Wie sie es geschafft hatten, die Grenzen zu passieren, wusste Yasemin nicht mehr. Später, als sie Asylantrag stellte, fand man bei der üblichen Routineüberprüfung in ihrer Heimat keinerlei Unterlagen über ihre Familie mehr vor. So wurde sie kurzerhand als Lügnerin eingestuft. Mal wieder eine Scheinasylantin, die sich mit einer tränenseligen Story Zuflucht in good old Germany erschleichen wollte. Ob ihre Eltern noch lebten, wusste Yasemin nicht, aber aus allen Computer- und Verwaltungssystemen der Türkei waren sie getilgt worden. Es schien sie nie gegeben zu haben. Bei diesem Gedanken erzitterte Yasemin und schluckte schwer.
Dann war da eines Tages dieser Mann gewesen, der behauptete, ihr Vormund zu sein, die Sozialarbeiterin, die ihr einmal geglaubt hatte, sie nun aber für eine Lügnerin hielt. Dann Yasemins Ausweisung und wieder Flucht. Immer von Neuem, fliehen, fliehen, fliehen. Verstecke und Unterschlupf finden – wie oft hatte sie dafür mit ihrem Körper bezahlen müssen! Wie oft hatten widerwärtige Männer sie mit der Androhung erpresst, sie der Polizei auszuliefern! Wieder und wieder hatten diese abscheulichen Typen sie gezwungen, eklig stinkende oder mit Warzen übersäte Schwänze zu lutschen. Weg damit! Die Bilder mussten einfach nur weg! Yasemin zog die Beine an, umschlang ihre Knie mit den Armen und schluchzte laut auf. Heiß fielen ihre Tränen in den Staub. Ihr Körper begann so heftig zu zittern, dass Nick davon aufwachte. Benommen rappelte er sich hoch und hockte wie ein in höchstem Maße begossener Pudel neben dem weinenden Mädchen. Er hatte keine Ahnung, was in Yasemin vorging, und war sich nicht sicher, ob er sich dem aussetzen wollte. Er kniete sich neben die Weinende, legte ihr einen Arm um die Schulter und fragte: „Soll ich dir eine drehen?“
Die Sonne war bereits vor einiger Zeit über den Horizont geklettert, als Fox sich endlich aufraffte, das kläglich ächzende Hotelbett zu verlassen und ins Bad zu gehen. Eine gerade fertig gekämmte und vorsichtig gestylte Ilka betrachtete sich zufrieden im Spiegel.
„Morgen, Kätzchen! Siehst klasse aus!“, gähnte der verschlafene Fox.
„Etwas mehr Begeisterung, bitte!“, forderte Ilka ein, umarmte Prancock und küsste ihn auf die Stirn. Tatsächlich rief dies zumindest einige der Lebensgeister in ihm wach; er erwiderte den Kuss unerwartet zart und sanft, um dann mit seiner Backe an Ilkas Wange auf- und abzuschmirgeln.
„Wie wär’s mal wieder mit einer Rasur?“, fragte Ilka und verzog ihr Gesicht.
„Hatten wir das Thema nicht erst letzte Woche?“, erwiderte Prancock.
„Stimmt, das hatte ich ja vergessen“, seufzte Ilka, „dein Rasierer hat ja auch Urlaub!“
„Was Neues von Jasmin?“, wechselte Fox vorsichtshalber das Thema, um einer eventuellen Eskalation des Rasierkonflikts aus dem Wege zu gehen.
„Nein, seit gestern Morgen keine SMS mehr. Eigentlich komisch!“
„Ach was“, meinte Fox und verscheuchte die Müdigkeit mit einem letzten Strecken der Arme, „das heißt wahrscheinlich, dass es ihr bestens geht. Mädels in dem Alter melden sich vor allem, wenn sie in Trouble sind oder Knete brauchen!“
„Du hast ja ’ne super Meinung von deiner Tochter!“
„So isses nun mal! Gehen wir frühstücken?“
„Von mir aus“, meinte Ilka grinsend, „wenn du im Pyjama in die Halle willst!“
Prancock brummte etwas Unverständliches vor sich hin und widmete sich dann kurz seiner Morgentoilette, die er in rekordverdächtigem Tempo absolvierte. Dann zog er sich an, um schließlich galant seiner Freundin den Arm zu reichen: „Voilà, Madame, allons a manger!“
Erstaunt blickte Ilka ihn an: „Wo hast du denn das her?“
„Hab mir mal aus Versehen im Sonderangebot einen Bogart-Film auf Französisch gekauft!“
„Na, Gott sei Dank war’s kein Zombieschocker!“
Sie gingen in den kleinen Frühstücksraum. Nur wenige der Gäste hatten sich so früh schon eingefunden. Die beiden ließen sich Kaffee und Croissants schmecken. Diesmal war das Gebäck frisch und knirschte nicht nach Raststättenart. Eigentlich sollte solch ein Geschmackserlebnis bei Ilka die zweite Phase des typischen Urlaubsfeelings einläuten. So bemühten sie und Fox sich redlich, sich zwanglos zu geben, aber sie konnten ihre Gedanken nicht von der merkwürdigen Nachricht aus dem Safe lösen. Da keiner die Urlaubsatmosphäre in diesem Moment stören wollte, tranken und aßen sie schweigend.
Als der Kellner schließlich Geschirr und Besteck abgeräumt hatte, ergriff Ilka die Initiative: „Wollen wir uns das Dorf ansehen?“
„Oh ja, hier gibt’s bestimmt romantische Kuhställe und historische Heuschober!“
„Wir könnten ja auch in die Stadt fahren!“, schlug Ilka vor.
„Na ja“, setzte Fox an und holte tief Luft, „vielleicht kann uns ja der Portier einen Tipp geben!“
Ilka seufzte. Sie wusste genau, was sich hinter dieser Feststellung verbarg: Der Spürhund wollte die Fährte aufnehmen.
Wenige Minuten später hatten sie die Sommerjacken aus ihrem Zimmer geholt und gingen zur Rezeption. Der Portier lächelte ihnen freundlich zu und nickte kurz.
„Taktik: totale Anmache!“, raunte Fox Ilka zu.
„Auf deine Verantwortung!“, raunte diese zurück.
„Oh, Scheiße!“, bemerkte Fox daraufhin etwas zu laut, und das freundliche Gesicht des Portiers nahm einen verwunderten Ausdruck an. Anscheinend waren seine Deutschkenntnisse besser als vermutet.
„Oh, Champs“, stotterte Prancock verlegen, nach einer Entschuldigung ringend, „Champs Elysees, meinte ich, waren Sie auch schon mal da?“ Fox bemühte sich, „Champs Elysees“ gerade noch erkennbar undeutlich auszusprechen, dass es seinem deutschen Fäkalausdruck sehr nahe kam.
„Oui, Monsieur, aber für einen Tagesausflug ist Paris zu weit!“
Ilka trat mit betontem Selbstbewusstsein an den Rezeptionstresen heran. Sogleich warf sie dem Mann dahinter einen unwiderstehlichen Augenaufschlag zu und fragte: „Wissen Sie, wer vor uns in unserem Zimmer gewohnt hat?“
„Darüber darf ich nicht ...“
„Aber natürlich nicht, mon cher ...“, hauchte Ilka und Fox dachte: „Cher? Was soll das schon wieder bedeuten?“ Er spürte, wie sein Adrenalin einen Kochkurs belegte.
„Ich wüsste nur gern, ob er Engländer war!“, fuhr Ilka fort und ließ den Portier gar nicht erst zu Wort kommen. Sie begegnete dessen fragendem Blick stattdessen mit einer Erklärung: „Er hat einen Notizblock auf dem Schreibtisch vergessen und darauf war etwas in Englisch gekritzelt!“
„Sie können den Block gerne hier deponieren, Madame! Vielleicht meldet der Mann sich ja, wenn es sich um etwas Wichtiges handelt ...“, setzte der Angestellte erneut an, seine Unbescholtenheit zu demonstrieren.
Ilka unterbrach ihn: „Nun, wie Sie sicher bemerkt haben, ist mein Verlobter“ – bei diesem Wort wurde Fox abwechselnd heiß und kalt: Sicher, er war bis über beide Ohren in