Katerdämmerung. Petra Zeichner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Zeichner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738016758
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schwebte ein paar Meter weiter über dem hohen Gras.

      „Hilf mir“, piepste er. „Hilf mir, ich schwebe davon.“

      „Warte, bleib hier, warte auf mich“, rief ihm Robin nach.

      „Ich kann nicht“, rief der Kleine.

      „Warum nicht?“

      Als keine Antwort kam, sprang Robin mit einem hohen Satz in die Luft, um den Schwarz-Weißen festzuhalten. Aber er griff mit seinen Vorderpfoten ins Leere und fiel von seinem Podest auf das darunterliegende. Er schüttelte sich, schaute im Wohnzimmer umher um sich zu vergewissern, dass dort kein anderer Kater herumschwebte.

      Kein Wunder, dass er diesen Traum hatte. Seit er bei den Schönings war, war es ihm nicht gelungen, eine Spur von seinem einstigen Schützling zu finden. Keine der anderen Katzen in der Gegend hatte einen Kater gesehen, auf den die Beschreibung passte. Morgen würde er seinen Suchradius auf außerhalb seines Reviers ausdehnen müssen. Sein Rückenhaar sträubte sich unwillkürlich bei dem Gedanken, dass der Schwarz-Weiße alleine da draußen unterwegs war und denjenigen suchte, der seinen Bruder auf dem Gewissen hatte.

      Robin hob seinen Kopf und schnüffelte in der Luft. Eine Meise hatte sich unvorsichtig auf dem dicken Ast der Kastanie, der bis an das Balkongeländer reichte, niedergelassen. Robin duckte sich an den Boden und schlich an das Geländer, das mit Schilfrohr umkleidet war. Die Meise konnte ihn nicht sehen. Er schnellte aus dem Stand nach oben auf das Geländer, doch der Vogel flatterte aufgeregt zwitschernd davon. Mit sicheren Pfoten schritt er auf dem Ast bis zum Baumstamm und kletterte durch das Geäst kopfüber nach unten. Auch das machte ihm kaum eine andere Butzbacher Katze nach. Die meisten kletterten rückwärts nach unten. Sein erster Gang führte ihn wie jeden Morgen zu einem der Rosenbeete hinter dem Haus. Dort war die Erde locker und er konnte sein großes Geschäft leicht vergraben. Gerade hatte er sich in die richtige Position gesetzt, da stach ihn etwas Spitzes ins Hinterteil. Er miaute laut, sprang nach vorne und drehte sich herum, um die Ursache des Schmerzes zu entdecken. Im lockeren Erdreich steckten kleine Holzspieße. Sie waren fast so braun wie die Erde, deshalb hatte er sie nicht gesehen. Robin ging einen Schritt zur Seite, als ihn etwas Spitzes in die Tatzen stach. Wieder miaute er, diesmal empört und machte einen Satz aus dem Blumenbeet heraus. Er inspizierte das Beet genauer und entdeckte die kleinen Holzspieße überall in der Erde um die Rosenstöcke herum.

      „Damit hast du nicht gerechnet, wie?“, sagte hinter ihm eine Männerstimme. Dann ein gehässiges Lachen. Mankowski stand, auf seinen Gehstock gestützt, am Rand der Wiese. „Ich treibe es euch Stinktieren schon noch aus.“

      Robin fauchte, entschloss sich aber, es diesmal nicht auf eine Konfrontation ankommen zu lassen. Er drückte sich durch ein Loch in der menschenhohen Hecke in den Nachbargarten. Dort gab es auch Beete.

      Robin durchquerte sein Revier zielstrebig. Nicht jedoch, ohne zu markieren. So viel Zeit musste sein. Hier sein Durchschlupf durch die Koniferenhecke, da der Stapel mit Brennholz drei Gärten weiter, dort sein Brombeerbusch am Gartenhäuschen. Überall stellte er seinen Schwanz steil in die Höhe und presste den Harnstrahl aus seinem Hinterteil. Sein Schwanz zitterte dabei. Wenn er den Duft eines Artgenossen roch, presste er besonders viel heraus, um den rivalisierenden Geruch zu überdecken.

      Sein Magen meldete sich, deshalb trabte er voller Zuversicht auf reichhaltigen Erfolg seinem Mauseloch entgegen. Es war nicht irgendein Mauseloch. Es war DAS Mauseloch von Butzbach. Hier gab es die meisten Mäuse und nicht nur die meisten, sondern offenbar auch die dümmsten. Normalerweise verbreiteten sich Katzenangriffe auf die Mäusebevölkerung in Windeseile unter den kleinen Nagern. So kam es, dass er ein Mauseloch nie öfter als drei- oder viermal besuchte. Dann buddelten sie sich andere Gänge und andere Mäuselöcher. Die Mäuse waren normalerweise nicht dumm. Aber hier war das anders. Seit Wochen schon kam Robin täglich hierher und fast jedes Mal schnappte er eine.

      Das einzige, das die uneingeschränkte Vorfreude auf die leichte Beute trübte, war die breite und viel befahrene Bundesstraße zwischen dem Kern seines Reviers und dessen Außenbezirken, in denen das Mauseloch war. Robin hatte eine Strategie, die ihn bisher immer sicher über die gefährliche Piste gebracht hatte. Er steuerte sein Mauseloch nicht auf direktem Weg an, sondern machte einen Schlenker. So erreichte er die B 3 dort, wo der Gehweg zu Ende war und am Straßenrand ein Graben mit hohem Gras verlief. Über diese Route musste er zwar an dem Haus der Tierärztin in der Wetzlarer Straße vorbei, doch das nahm er lieber in Kauf als ungeschützt vor den brummenden Autos auf dem Gehweg zu warten, bis eine Lücke kam. Im Schutz des hohen Grases machte ihm das weniger aus.

      Heute überquerte er die Fahrbahn mit wenigen großen Sätzen. Er ließ die weitläufige, platt gewalzte Erdfläche rechts liegen und überquerte den schmalen Ebersgönser Weg. Dann noch über den Feldweg, der an den Pferdekoppeln vorbeiführte. Zielstrebig bog er um die hintere Ecke des Reitstalls, als er abrupt stoppte.

      Vor seinem Mauseloch saß ein fremder Kater.

      Er hatte ihn noch nie hier gesehen. Der andere drehte ihm seinen schwarz-weißen Rücken zu. Robin ging in die Knie, hob eine Tatze ganz langsam und setzte sie ebenso langsam wieder auf den Boden. Im Zeitlupentempo, eng an den Boden gedrückt, schlich er sich an. Seine Strategie war klar. Ein gezielter Sprung von hinten, sofort den Nackenbiss anwenden und so dem Gegner den Garaus machen. Er wollte sich nicht auf einen langen Kampf einlassen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sein Plan aufgehen würde, denn der Schwarz-Weiße war kleiner als er. Er müsste nur sein ganzes Gewicht – immerhin stolze sieben Kilogramm – in den Sprung legen, das würde den anderen umwerfen, dabei hätte der aber schon Robin im Nacken hängen und könnte sich nicht mehr wehren.

      Während er näher schlich, ging er den Angriffssprung in Gedanken durch. Dann war es so weit. Robin verharrte geduckt und sammelte sich zum Sprung. Mit den Hinterbeinen trat er auf der Stelle. Er wärmte seine Muskeln und spannte sie an. Da drehte sich der Schwarz-Weiße herum.

      Beide Kater erstarrten. Nun war der Fremde im Vorteil, denn er saß aufrecht, während Robin immer noch am Boden kauerte. Robin stellte seine Nackenhaare auf und knurrte bedrohlich. Der Fremde gab keinen Laut von sich. Unendlich langsam, Zentimeter für Zentimeter, richtete sich Robin auf. Dann saßen sie sich gegenüber, nur einen Meter voneinander entfernt, zu Eis erstarrt, während die Minuten vergingen. Offenbar wollte der Fremde nicht ohne Weiteres abziehen. Jede Sehne an Robins Körper war gespannt. Dann entschloss er sich zu handeln.

      „Das ist MEIN Mauseloch“, knurrte er laut.

      Der Schwarz-Weiße legte den Kopf kaum merklich zur Seite, der Blickkontakt war für eine Sekunde unterbrochen. Doch gleich darauf starrte er zurück.

      „Ich habe Hunger“, sagte er und wie zur Bestätigung brummte er. „Die Mäuse gehören niemandem.“

      Robin betrachtete den Fremden genauer. Er war dürr und bestimmt drei Zentimeter kleiner als er.

      „Irrtum“, knurrte er deshalb. „Sie gehören mir, weil sie aus MEINEM Mauseloch kommen.“

      Die Wucht des Sprungs traf Robin unvorbereitet. Er wollte noch zur Seite springen, aber da hing der Schwarz-Weiße schon an seinem Hals. Robin strauchelte und kippte um. Sein dickes Fell schützte ihn vor den Zähnen des Widersachers. Doch er lag auf dem Rücken, der Fremde über ihm. So dicht war des Angreifers Kopf über Robins Nase, dass der nichts anderes als dessen intensiven Geruch wahrnahm. Er kannte ihn. Wie ein heller Blitz tauchte das Bild des kleinen Welpen aus dem Tierheim vor Robins Augen auf.

      „Hör auf“, wollte er miauen. „Kennst du mich nicht mehr?“

      Aber der Kater hatte sich so fest in seinem Hals verbissen, dass ihm die Luft weg blieb. Robin schrie und fauchte und schlug seine Hinterbeine mit weit ausgefahrenen Krallen in den Bauch seines einstigen Freundes. Der jaulte und lockerte für einen Moment seinen Biss. Das verschaffte Robin die Luft, um sich aus der Umklammerung zu winden. Er fuhr herum und biss blindlings zu. Der Schwarz-Weiße jaulte auf, ihm fehlte ein Stück vom Ohr. Dann ein scharfer Schmerz auf Robins Nase, Blut tropfte ihm ins Maul, sein eigenes, aber Robin blieb stumm. Er ließ sich nicht mehr von seinem Vorhaben abbringen. Er umklammerte seinen Gegner und der umklammerte ihn. Ineinander verkeilt, schreiend und blutend,