Eolanee. Michael H. Schenk. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael H. Schenk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847688563
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nun so starr und leblos wirkte. Ein Blutfaden sickerte aus dem halb geöffneten Mund. Eolanee rüttelte verwirrt an der Schulter der Mutter und sah dabei auf den seltsamen Gegenstand, der im Rücken der leblosen Gestalt steckte. Der fingerdicke Stock ragte zwei Hände breit hervor und war von graugrüner Farbe. Dort, wo er eingedrungen war, sickerte Blut hervor. Dann begann sich der Stock unvermittelt in schlangenartigen Zuckungen zu bewegen.

      Eolanee schrie auf, so wie dies auch andere Menschen in diesem Augenblick taten.

      Die seltsamen Stöcke schwirrten über das Feld heran, schlugen in menschliche Leiber. Eine Frau rannte in wilder Flucht. Statt den Schutz der Kegelbäume zu suchen, lief sie zum Fluss hinüber. Als sie ihn erreichte, schlug eines der Geschosse in ihren Rücken und ihr blutender Leib stürzte ins aufspritzende Wasser. All dies geschah in wenigen Augenblicken und die Enoderi begriffen nur langsam, welche Gefahr ihnen drohte.

      Eolanees Vater ließ die Holme des Karrens los und wies zu den Kegelbäumen hinüber. „Ein Überfall! Zu den Bäumen! Flieht in die Häuser! Rasch!“

      Er sah sich nach Frau und Tochter um, erkannte Eolanee zwischen den Bäumen und rannte los. Mit ihm liefen andere. Die meisten verstanden überhaupt nicht, was da gerade geschah. Einige blickten verwirrt um sich, andere versuchten jenen zu helfen, die von den Geschossen getroffen worden waren oder nicht schnell genug vorankamen. Wieder andere hasteten einfach nur auf die Bäume zu, die ihnen Sicherheit verhießen.

      Die tödlichen Objekte waren wählerisch. Die meisten von ihnen trafen Männer. Als die entsetzten Enoderi nun panisch auf die Kegelbäume zueilten, erhoben sich dunkle Gestalten jenseits des Feldes und eine von ihnen deutete zu den Flüchtenden.

      „Schnappt sie euch. Holt euch die Frauen und die größeren Kinder! Lutrus, du achtest mir mit deinen Männern darauf, dass sie keinen Boten ins nächste Tal senden können!“

      Neredia, die Bäumhüterin, war am Rand des Feldes gewesen um die Ernte zu überwachen und nötigenfalls die rituellen Formeln zu bekräftigen. Sie erschauerte, als sie die Gestalten sah und wusste, um wen es sich handelte. „Berengar! Bei der Göttin und dem Kreislauf des Lebens, ausgerechnet Berengar!“

      Sie war den Kriegern dieses Volkes noch nie begegnet, aber bei ihren seltenen Besuchen im Handelsposten, jenseits der nördlichen Grenze des Waldlandes, hatte sie von diesen Wesen gehört. Sie lebten im Osten, hinter dem großen Gebirge und niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, ob es sich bei ihnen um menschliche Wesen handelte. Sie waren für ihre Grausamkeit bekannt, denn immer wieder schlichen kleine Gruppen von ihnen über die einsamen Gebirgspässe und überfielen Siedlungen des benachbarten Menschenreiches Menteva. Dann töteten die Berengar alle Männer, die Alten und jene Kinder, die zu klein waren, den Marsch über das Gebirge zu überstehen. Die Frauen und größeren Kinder verschleppten sie in ein ungewisses Schicksal. Nie zuvor waren Berengar so weit im Süden aufgetaucht, aber die Baumhüterin erkannte die typische, kupferfarbene Haut und so konnten es nur Krieger dieses barbarischen Volkes sein.

      Neredia fühlte sich wie gelähmt und sah wie einige der Angreifer weitere dünne Stöcke hervorholten und nach den Fliehenden warfen. Kaum eines dieser Wurfgeschosse verfehlte sein Ziel und die Baumhüterin erkannte schockiert, dass es sich nicht um leblose Fasern, sondern lebende Wesen handelte. Sobald einer der Stöcke einen flüchtenden Enoderi berührte, wurde aus dem starren Objekt unvermittelt eine biegsame Schlinge, die sich eng um den Körper legte und ihn zu Fall brachte, so dass er, hilflos gefesselt, am Boden liegen blieb.

      Neben Neredia wurde eine Frau von einem der ungewöhnlichen Geschosse getroffen und als das Opfer mit einem entsetzten Schrei zu Boden stürzte, erwachte die Baumhüterin aus ihrer Starre. Sie wusste nun, dass es sich um eine lebendige Pflanze oder doch wenigstens einen Teil davon handelte. Diese zog sich bereits eng zusammen und Neredia sah eine knotige Struktur von grüngrauer Farbe. Instinktiv bückte sie sich, versuchte, das Objekt von der Frau zu lösen. Überrascht spürte sie die Intensität der Lebensimpulse. Ja, es war eine Pflanze, den Fangwurzeln der Kegelbäume ähnlich und doch ganz anders. Sie fühlte die bösartige Ausstrahlung des Wesens und es kostete sie Überwindung, ihre Fingerspitzen aufzulegen und beruhigende Impulse zu übermitteln. Zunächst war ihr Versuch erfolglos, doch dann wandelte sich das Bewusstseinsmuster der Schlingenpflanze und sie entspannte sich. Die Frau stöhnte, als die Fessel von ihr abfiel.

      Neredia ergriff ihre Hand und zog sie vom Boden hoch. „Schnell, wir müssen in eines der Häuser, egal in welches.“

      Betratos hatte dieselbe Absicht. Mit seinen sechs Jahren konnte er noch nicht begreifen was geschah, aber er spürte instinktiv, dass nur die Kegelbäume Schutz bieten konnten. Er griff Eolanees Hand und zerrte mit aller Kraft, bis sich das schluchzende Mädchen von seiner toten Mutter löste.

      „Wir müssen ins Haus, Eo“, schrie er sie an. „Komm, wir müssen ins Haus.“

      Ein Enoderi war hinter den beiden Kindern, wollte sie packen, um sie in Sicherheit zu bringen. Ein Pflanzengeschoss traf seinen Rücken und sie merkten nicht einmal, wie er hinter ihnen zu Boden stürzte.

      Die ganze Gemeinschaft von Ayan war auf dem Feld gewesen um die Ernte einzubringen. Obwohl die Entfernung zu den schützenden Kegelbäumen nur wenige hundert Meter betrug, gelang es nur einem Kind und einer Frau, die Fangwurzeln eines Baumes zu ergreifen. Das Kind stürzte, von einer Schlingenpflanze getroffen. Die Füße der Frau hatten kaum den Boden verlassen, als ein Mann mit kupferner Hautfarbe sie ansprang und wieder zurück riss. Während sie gellend um Hilfe schrie, zog der Mann eine Pflanze aus einem Köcher auf seinem Rücken und sah zu, wie das Wesen sein Opfer fesselte.

      Betratos hatte Eolanee mit sich gezogen und erkannt, dass die kupferfarbenen Männer ihnen den Weg zu den Häusern abschnitten. Vielleicht hätten sie es dennoch geschafft, eine der Fangwurzeln zu ergreifen und den Schutz eines Kegelbaums zu finden, aber der Sechsjährige empfand Furcht beim Anblick der Fremden. Er wollte ihnen instinktiv ausweichen und zog Eolanee mit sich, entgegengesetzt jener Richtung, aus der die Männer kamen. So entfernten sich die Kinder von der Siedlung. Sie rannten über den weichen Boden der Lichtung, auf dem die Kegelbäume standen und hasteten auf die normalen Bäume zu, die in einigem Abstand wuchsen. Diese konnten nicht den Schutz eines Kegelbaums bieten, aber zwischen ihnen wuchsen Dornbüsche. Diese hatten dichte Blätter, die Sichtschutz boten und lange Stacheln, die sie wehrhaft machten. Betratos hoffte, dass er und Eolanee sich zwischen ihnen verbergen konnten und so zog er die Freundin verzweifelt mit sich. Während sie darauf zuhasteten, wurden die Schreie des Entsetzens hinter ihnen seltener. Dafür waren die triumphierenden Rufe der Berengar zu hören, die ihre Beute sichteten.

      Die beiden Kinder waren noch lange nicht in Sicherheit, das spürte der Junge.

      Eolanee ließ sich einfach mitziehen. Sie sah kaum etwas, war geblendet von Tränen. Sie schluchzte verzweifelt, rief nach ihrer Mutter und ihrem Vater.

      „Sei still“, schrie Betratos. „Sie hören dich und dann kommen sie hinter uns her und werden uns einfangen.“

      Der Anführer der Berengar stand in der Nähe eines Kegelbaums und musterte die mächtige Pflanze. Ihre Fangwurzeln bewegten sich unruhig, als spüre der Baum, dass etwas Furchtbares vor sich ging. Aber er selbst war nicht bedroht, kein Enoderi forderte seine Hilfe und so blieb der Baum passiv.

      „Lutrus, wie sieht es aus? Haben wir gute Beute gemacht?“

      Ein schlanker Mann trat aus einer Gruppe hervor und kam zu seinem Anführer herüber.

      Die Männer sahen sich alle in gewisser Weise ähnlich. Eine kurze Jacke und eine eng anliegende Hose, beides aus schwarzgrauem Leder, dazu wadenlange Stiefel und ein breiter Gürtel in dunklem Rotbraun. Auf den Köpfen trugen sie einfache Topfhelme, deren Metall mit Farbe und Schmutz beschmiert war, damit sie das Sonnenlicht nicht reflektierten. Ihr Haar trugen sie in drei geflochtenen Zöpfen. Zwei kurze, rechts und links und einen sehr langen Nackenzopf, der bis zum Gürtel hinab reichte. Am Gürtel war hinten eine große Ledertasche befestigt, in der die Berengar Proviant mitführten. Über der Schulter trugen sie zwei große Köcher. Beide enthielten eine Nährstofflösung und die Schlingenpflanzen. Die halbsymbiotischen Lebewesen waren Teile der Farsabäume, die nur im Land der Berengar vorkamen und ihnen seit ewigen Zeiten als Waffen