Eolanee. Michael H. Schenk. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael H. Schenk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847688563
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sangen die anderen.

      „Auf, ihr Brüder und Schwestern der Bäume.“ Neredia wies in das große Feld. „Es ist an der Zeit.“

      Fröhliches Gelächter erklang und die Menschen wischten sich Pollenstaub aus den Gesichtern und klopften ihre Kleidung ab. Ein eher sinnloses Unterfangen, denn die Arbeit im Feld würde den Staub erneut aufwirbeln und alle Reinigungsversuche zunichte machen. Stimmen schwirrten über das Feld, als sich Männer, Frauen und die größeren Kinder daran machten, in einer langen Linie auszuschwärmen. Zwei der Frauen blieben zurück, um jene Kinder zu beaufsichtigen, die an der Ernte nicht teilhaben konnten.

      Die Männer schoben die kleinen Karren auf denen sich die großen Sammelkörbe befanden. Jetzt war ihre Arbeit noch leicht, aber bald würden die Körbe schwer und die Wege zwischen den Getreidehalmen zerfurcht sein. Die Frauen schwangen die Sensen und schnitten die Halme, die Jungen und Mädchen folgten ihnen, und beförderten die Halme zu den Karren ihrer Väter. Noch vor zwei Jahren hatte Eolanee mit sehr konzentriertem Gesicht einzelne Halme getragen. Die anderen hatten sie angelächelt und die Dreijährige war von Stolz erfüllt gewesen. Nun war sie älter und wusste, dass es sinnvoller war, gleich mehrere Halme gleichzeitig zu nehmen.

      Die Körbe brachte man zum Versammlungsplatz zwischen den Kegelbäumen. Dort konnte man das Getreide schlagen, damit sich die Spreu vom Weizen trennte. Den Weizen würden die Enoderi für ihr Brot verwenden, die Überreste der Getreidepflanze verteilten sie auf dem Boden unter den Kegelbäumen. Deren Fangwurzeln konnten auch den letzten Rest Nährstoff herausfiltern.

      Es war heiß und Eolanee sehnte sich bald nach dem Schatten der Bäume. Zudem war es ihr zunehmend langweilig, sich nach den geschnittenen Halmen zu bücken und sie zu einem der Karren zu tragen. Sehnsüchtig starrte sie immer wieder zu den kleineren Kindern, die sich nicht derart plagen mussten.

      Ihr Vater bemerkte die wachsende Unlust seiner Tochter. Als sie erneut einen Arm voller Halme brachte, stützte er sich auf die Holme des Karrens und zwinkerte ihr zu. „Nur bis zum Mittag, Eo, dann kannst du ein bisschen ausruhen. Du kannst ja mit Betratos zu dem kleinen Teich gehen, den wir angelegt haben. Vielleicht sind die Fische ja schon etwas gewachsen.“

      „Und die kleinen Frösche!“ Eolanee klatschte begeistert in die Hände.

      „Nun ja, sie wachsen schnell“, erwiderte er lächelnd, „aber ein wenig Zeit werden sie schon noch brauchen.“ Er beschattete die Augen und schätzte den Sonnenstand ein. „Ist nicht mehr lange, meine Süße. Wenn du magst, kannst du schon Brot, Käse und Wasser für die Rast holen.“

      „Und süße Beeren?“

      Er lachte auf. „Ja, auch süße Beeren. Ich weiß ja, wie sehr du sie magst.“

      „Au fein.“ Eolanee ließ die Halme, die sie noch im Arm trug, einfach fallen und rannte los.

      Ihr Vater seufzte leise, hob das Getreide in den Korb und sah seine Frau dann achselzuckend an. „Sie ist noch sehr jung.“

      „Ja, aber ihre Kräfte sind stark.“ Nehela blickte zum Kegelbaum hinüber, in dessen Richtung die Tochter verschwunden war. „Sie hat den Wind gespürt.“

      „Das haben wir alle.“

      Seine Frau schüttelte den Kopf. „Sie wusste es, bevor wir ihn gespürt haben.“

      „Der Baum?“

      „Ja.“

      Teneteanos kratzte sich im Nacken. „Wir sollten mit der Baumhüterin Neredia darüber sprechen. Vielleicht hat Eolanee die Gabe. Es gibt nie genug gute Baumhüterinnen, das weißt du. Neredia hat noch keine geeignete Nachfolgerin.“

      „Eolanee ist erst Fünf. Sie ist noch viel zu jung.“

      Ihr Mann trat neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. „Dennoch. Wenn Eo die Gabe hat, sollte die Baumhüterin es erfahren. So früh wie möglich. Auch wenn es in jedem Dorf mehrere Hüterinnen gibt, so sind sie für jede Enoderi mit der besonderen Gabe dankbar.“

      Eolanee hatte die Fangwurzeln fast erreicht, als sie Betratos Stimme hinter sich hörte. „He, warte. Wieso hörst du mit der Ernte auf?“

      Die Fünfjährige verharrte, eine Hand an der Wurzel und sah ihren Spielkameraden spöttisch an. „Weil ich jetzt Wichtigeres zu tun habe.“

      „Ach. Was sollte es Wichtigeres als die Ernte geben?“

      „Mittagessen.“

      Betratos leckte sich über die Lippen, dann nickte er zögernd. „Ja, das ist wahr. Ohne Essen habe ich auch gar keine Kraft zur Ernte.“ Er lächelte breit. „Soll ich dir helfen?“

      „Wenn du willst. Wer zuerst oben ist?“

      „Das gilt.“ Betratos lachte auf und drückte Eolanee zur Seite, um ihre Fangwurzel zu ergreifen. „Such du dir eine andere. Die hier ist mir.“

      Es hätte ihn irritieren sollen, dass Eolanee nicht protestierte. Aber der Sechsjährige war viel zu sehr darauf konzentriert, vor seiner Freundin oben anzukommen. Die Wurzel formte die Trageschlinge, veränderte sich und Betratos glitt in die Höhe.

      Aber nicht weit.

      Eolanee konnte die Fangwurzel packen, bevor diese zu weit über ihr war und setzte erneut ihre Kräfte ein. Betratos begriff überhaupt nicht, was ihm da geschah. Eben saß er noch sicher in der Wurzelschlinge und schwebte auf bequeme Weise in die Höhe, dann, ohne jegliche Vorwarnung, löste sich die Tragevorrichtung auf. Die Fangwurzel streckte sich und wurde glatt, als sei sie poliert worden. Mit einem heiseren Aufschrei stürzte er auf den Boden zurück. Das weiche Moos dämpfte seinen Aufprall, dennoch trieb es ihm die Luft aus den Lungen.

      „Eolanee!“

      Sie zuckte zusammen und wandte den Kopf. Schuldbewusst sah sie ihrer Mutter entgegen, während sich Betratos benommen vom Boden aufrichtete und seinen verlängerten Rücken rieb. „Das war echt gemein von dir. Du hast etwas mit der Wurzel gemacht.“

      „Hab ich gar nicht“, erwiderte Eolanee schnippisch. „Du hättest dich ja festhalten können.“

      Nehela war nun heran und sah ihre Tochter drohend an. „Wie konntest du das nur tun, Eo? Betratos hätte sich ernstlich verletzen können. Betratos, ist dir etwas geschehen?“

      Der erste Schreck und auch der Zorn auf Eolanee waren verflogen. Der Junge sah kurz zu seiner Freundin und schüttelte hastig den Kopf. „Nein, ich bin nur abgerutscht. Eo kann nichts dafür.“

      Eolanees Mutter ergriff die Hände beider Kinder, ging in die Hocke und sah sie ernst an. „Betratos, es ist richtig, sich für ein anderes Wesen einzusetzen, aber das heißt nicht, dass man für ein anderes Wesen lügen darf. Die anderen Menschen, da draußen, jenseits der Grenzen, sie beherrschen die Lüge und nutzen sie zu ihrem Vorteil. Ein Enoderi tut das nicht. Ein Enoderi…“

      Es war ein leises Schwirren, dem ein dumpfes Patschen folgte.

      Nehelas Augen weiteten sich schreckhaft und nahmen einen seltsamen Ausdruck an.

      „Mutter?“

      Eolanee sah verwirrt, wie ihre Mutter sich vorneigte, immer weiter und dann haltlos vornüber stürzte. Ihr Griff löste sich von den Händen der Kinder und als Nehela auf dem Bauch lag, sah man das seltsame Ding, welches aus ihrem Rücken ragte. Ein roter Fleck begann sich dort zu bilden, wo der Gegenstand eingedrungen war.

      „Ein… ein Ast“, ächzte Betratos. „Ein dünner Ast. Wie kann…“

      Eolanee sank auf ihre Knie, rüttelte verwirrt an Nehelas Schulter. „Mutter? Was ist mit dir? Warum sagst du nichts?“

      Wieder war das Surren zu hören.

      Etwas weiter entfernt.

      Auf dem Feld schrie ein Mann. Gellend und in einer Weise, die seine großen Schmerzen verriet.

      Betratos richtete sich auf und blickte hinüber.

      Eolanee konnte ihre Augen jedoch nicht von