„Unsinn.“ Die Große Mutter bellte lachend. „Sie mögen mehr wissen, aber deshalb sind sie nicht unbedingt schlauer. Was weißt du sonst noch über die Säuger?“
„Nur, dass sie ein großes Reich im Norden bewohnen.“ Oluds Kehlsack gewann wieder etwas an Farbe. Auch wenn die Große Mutter ihn nicht ernsthaft angegriffen hatte, so war die rasche Attacke für ihn doch erschreckend gewesen. „Die wir in der Wüste fingen, haben nicht viel gesagt. Wir kennen nur wenig von ihrer Sprache und noch viel weniger von ihrem Leben.“
„So ist es.“ Die Große Mutter stieß ihn besänftigend an. „Eigentlich wissen wir nichts über die Säuger. Aber da sich unser Volk nur nach Norden ausbreiten kann, müssen wir auch mehr über die Säuger erfahren. Wir müssen in Erfahrung bringen, ob sie zu einer Gefahr für die Raan werden können.“ Sie sah Olud-Sha nachdenklich an. „Und das, Olud aus dem Gelege der Sha, wird deine Aufgabe sein.“
Das Männchen sah die Herrin der Raan an. Seine Schlitzpupillen wurden vor Überraschung rund. „Meine Aufgabe?“
„Deine Aufgabe, Olud-Sha.“ Sie blickte über die Wüste und nickte langsam. „Du kommst aus einem großen Ei, Olud, und wer aus einem großen Ei stammt, erweist dem Volk der Raan auch immer einen großen Dienst. Deiner wird es sein, nach Norden zu gehen und die Säuger zu beobachten. Du wirst in Erfahrung bringen, wie sie leben, wie sie denken und…“, sie lachte leise auf, „welche Gefahr sie darstellen, wenn wir nach Norden gehen.“
Olud schluckte nervös. „Es wird also Krieg mit den Säugern geben?“
„Nur, wenn es sein muss.“ Die Große Mutter streichelte seine Flanke. „Du bist nun der Beobachter, Olud-Sha, und du wirst mir sagen, ob es Krieg geben wird.“
Das kleine Männchen sah benommen nach Norden, dorthin, wo sich das Reich der Säuger befand. „Warum ich? Ich bin nur ein Männchen. Ein sehr kleines Männchen.“
„Gerade deshalb. Du bist klein wie ein junger Zögling und wirst auf die Säuger weit weniger bedrohlich wirken, als eine ausgewachsene Kriegerin. Du hast das Buch der Bücher gelesen und bist intelligent. Du wirst es schaffen, dich unter ihnen zu bewegen und sie zu beobachten, bis du genug von ihnen weißt.“
Die Große Mutter war beruhigt, das Oluds Kehlsack eine tiefrote Farbe aufwies. Das Männchen zeigte keine Angst, was sie insgeheim befürchtet hatte. Nein, sie hatte die richtige Wahl getroffen und das beruhigte die Herrin der Raan. „Ich werde dich nun mit einigen Dingen vertraut machen, die deine Aufgabe betreffen, Olud-Sha, Beobachter der Raan.“ Sie stieß ihn sanft an. „Komm jetzt mit mir in meine Räume. Ich habe dir noch einiges zu sagen, denn Morgen wirst du deiner Bestimmung folgen.“
Olud zögerte nicht, ihr zu folgen.
Er empfand keine Furcht, obwohl er sich in den unbekannten Norden wagen musste. Im Gegenteil, er war neugierig, was er im Land der Säuger erleben würde. Er, Olud-Sha, das bislang unbedeutendste Männchen des Geleges, hatte nun eine Aufgabe, die ihn aus der Masse der anderen Männchen, ja, aller Raan, erhob. Er, Olud, würde der Beobachter des Volkes sein und, wenn auch nur zu einem kleinen Teil, zu seiner Zukunft beitragen.
Olud hörte den mahnenden Pfiff der Großen Mutter und wandte sich um. Zum ersten Mal seit Langem fuhr sein muskulöser Schwanz vergnügt von einer Seite zur anderen. Olud-Sha, Beobachter der Raan – das hatte Klang. All die Jahre hatte er den mehr oder weniger verborgenen Spott der Weibchen ertragen müssen, selbst die anderen Männchen hielten sich für etwas Besseres. Gelegentlich erhielt Olud auch Bisse und Schläge. Natürlich nur, wenn die Große Mutter dies nicht bemerken konnte, und im Vertrauen darauf, dass Olud noch immer genug Stolz besaß, nicht bei seiner Mentorin Schutz zu suchen. Olud hatte all das erduldet, in der Hoffnung, sich eines Tages beweisen zu können. Nun schien der ersehnte Augenblick gekommen. Vielleicht würde man sogar einmal im Buch der Bücher über ihn lesen können? Die Weibchen würden nicht mehr die Schnauze kräuseln, wenn er in ihre Nähe kam, sie würden um ihn buhlen…
„Olud!?“
Er seufzte leise. Vor der Brunst kam die Erfüllung der Aufgabe. Er würde sie gut erfüllen, so wahr er nun der Beobachter war.
Kapitel 2 Die Sorge eines Kaisers
Das Arbeitszimmer maß rund zwanzig mal zwanzig Meter im Quadrat und war einer der bescheidenen Räume im Palast. Ihre Imperialität, Kaiser Donderem-Vob, wäre auch mit einem kleineren zufrieden gewesen, aber die Größe des Arbeitszimmers hatte praktische Gründe, denn auch das Imperium war groß. Ein guter Teil des Bodens war mit winzigen Farbsteinen ausgelegt, welche die Karte des Reiches bildeten. So konnte der Imperator gleichermaßen seine Schritte über die Karte führen, wie er auch die Geschicke der Provinzen lenkte.
Der Boden des Raumes war in blauem Marmor gehalten, ebenso die Decke. Für den Kaiser symbolisierten sie die Unendlichkeit des Meeres und des Himmels. Die Wände waren schmucklos und wirkten in ihrem strahlenden Weiß nüchtern. An einer Seite bot ein riesiges Fenster einen grandiosen Ausblick auf die Stadt, an der gegenüberliegenden Wand befand sich das überlebensgroße Wappen des Imperiums, das geflügelte Einhorn.
Donderem-Vob war nun 68 Jahre alt und noch immer von beeindruckender Gestalt. Zwar war die Kraft seiner Muskeln weitestgehend gewichen, und sein Leib hatte sich etwas gerundet, aber man sah ihm noch immer den kampferprobten Veteran vieler Schlachten an. Der Beiname Vob verriet die vornehme Herkunft, und die Narben den Körpers zeigten, dass der Imperator seine Männer in vorderster Linie geführt hatte.
„Die Zeit, da ich Rüstung und Schwert führte, ist vorbei, Densen“, brummte der Imperator missmutig und schritt über das Mosaik der Karte. „Heute kämpfe ich nicht mehr gegen Walven und Abtrünnige, sondern gegen den Senat.“ Donderem-Vob hob den Blick und sah zu dem großen Fenster hinüber, durch das man das Senatsgebäude sehen konnte. „Und noch immer habe ich den Feind vor Augen.“
Der Mann, mit dem der Kaiser des Imperiums sprach, lehnte leger an einer der Säulen, die sich entlang der Fensterwand erhoben. Er war schlank und groß wie der Imperator, aber deutlich jünger. Densen Jolas trug die graue Kniehose und den schwarzen Wams der imperialen Garde, der Leibwache des Herrschers. Auf der linken Brustseite war das imperiale Wappen eingesteckt, das einzige Zeichen von Densens hohem Rang als Kommandeur der Leibwache. Obwohl er entspannt wirkte, spürte man die Bereitschaft, sofort auf ein Anzeichen von Gefahr zu reagieren. Der abgenutzte Griff des Schwertes an seiner Seite verriet, dass er dies auch oft getan hatte. Densen hatte mittelbraunes Haar, welches ebenso kurz geschnitten war, wie der Vollbart, der sein Gesicht einrahmte. An seiner linken Schläfe schimmerte das Haar silbrig, Folge einer Verletzung, die er einst erlitten. Auf den ersten Blick konnte man Densen Jolas für einen jungen Mann halten, bis man in seine grauen Augen blickte. Augen, die verrieten, dass ihr Besitzer schon viel erlebt hatte.
Donderem-Vob warf Densen einen kurzen Blick zu. „Ja, verdammt, Densen, du hast gut Lachen. Du kannst dich einem Feind mit der Klinge stellen, ich hingegen muss mit Worten kämpfen. Glaube mir, Densen, manchmal sehne ich mich in jene Zeit zurück, wo die Kraft des Armes und die Schnelligkeit kalten Stahls die Entscheidung herbeiführten.“
Densen lächelte verständnisvoll. „Der Senat ist nicht Euer Feind, Eure Imperialität.“
„Verrenk dir nicht die Zunge, Densen.“ Donderem lachte leise auf. „Wir haben Seite an Seite gekämpft. Damals warst du noch ein blutjunger Lanzenreiter in meiner Schwadron. Wenn wir unter uns sind, so kannst du offen reden, wie es sich für Lanzer gehört.“ Der Kaiser musterte die Karte und seufzte leise. Der in Riemensandalen steckende Fuß tippte gegen eine der Landmarken. „Der Horvalt-Pass. Verdammt, Densen, ich kann mich noch gut erinnern, wie die Walven dort über uns herfielen.“
„Wir haben es ihnen gezeigt“, erwiderte Densen Jolas mit sanftem Lächeln.
„Ja, Densen, das haben wir. Das haben wir wirklich.“ Erneut seufzte der Imperator und schritt dann zu seinem Schreibtisch hinüber. „Seitdem herrscht Ruhe, Densen, und ich sage dir, es