Ich schneide dir die Ohren ab - bis auf zwei. Babette Guttner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Babette Guttner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741849954
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meiner Großmutter zu erkundigen. Mich kannte er noch nicht und hat mich deshalb gefragt wer ich bin und wie ich heiße. Da ich mit fremden Menschen nicht sprechen durfte, und er in seiner Lederschürze, die bis zum Boden hing, gar so furchterregend aussah, lief ich einfach weg.

      »Wenn ich dich erwische, schneide ich dir die Ohren ab, bis auf zwei.«

      Hat er mir noch nachgerufen.

      Da bin ich gleich noch schneller gelaufen und versteckte mich auf dem Dachboden. Erst als er wieder weg war, das konnte ich von der Dachluke aus beobachten, traute ich mich wieder aus meinem Versteck. Bis auf zwei, das habe ich noch nicht ganz begriffen, und alle haben mich deswegen ausgelacht. Immer wenn er die Tour fuhr, das Gespann war ja Gott sei Dank immer schon von Weitem sichtbar, war ich auf dem Dachboden. Ich hatte solche Angst um meine Ohren, alles Reden meiner Familie hat nichts genützt.

      Was ich durfte und was ich sollte, habe ich nie richtig begriffen. Heute galt eine Regel und Morgen eine andere. Ich wollte ja alles richtig machen, aber ich war sehr verunsichert. Gerade dann tut man meist das verkehrte, handelt sich Strafen ein und versteht die Welt nicht mehr.

      In dem Haus wohnte, wie gesagt meine Großfamilie. Meine Großeltern hatten neun Kinder.

      Ein Onkel starb zwei Wochen nach der Geburt und der andere Onkel, der ältere Sohn und Erbe galt als in Stalingrad vermisst. Demzufolge hatte ich noch lebend, fünf Tanten und einen Onkel.

      In den Ferien kamen Cousinen und Cousins mit ihren Eltern oder Müttern zu Besuch. Sie waren einige Jahre älter als ich und wollten nicht mit mir spielen. Feige waren sie außerdem.

      Sie trauten sich nicht ins Sägewerk und schon gar nicht in den interessanten Untergrund. Da gab es noch eine alte Mühle, die nicht mehr in Betrieb war. Einen großen Raum mit Batterien die mit Säure gefüllt waren. Es roch sehr scharf. Sie wurden zum Strom konservieren benötigt. Denn wir waren noch nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen. Unsere Energie 110 Volt Gleichstrom kam aus diesen Batterien und die, mussten immer wieder aufgeladen werden. Dafür leistete das große Wasserrad seinen Dienst. Für das Licht am Abend und den Radio reichte das aus. Waschmaschine, Kühlschrank oder Elektroherd gab es nicht.

      Ein anderer Raum, genau unter dem Gatter war voll mit Sägespänen.

      Dann gab es da noch das riesige Wasserrad verbunden mit dicken Nockenwellen an denen drehten sich Zahnräder und andere Riemenscheiben. Manche mit aufgelegten laufenden Riemen, wenn der Sägegatter in Betrieb war.

      Dort war es gefährlich, zudem ich mit einer Schürze mit flatternden Bändern zwischen den laufenden Riemen hindurch sprang. Sich dort aufzuhalten war für uns Kinder strengstens verboten. Aber immer wieder schlich ich heimlich dort hin um die Mechanik der drehenden Räder zu beobachten. Ich konnte stundenlang dort sitzen und träumen. Vermisst hat mich anscheinend niemand.

      An der allgemeinen Wasserversorgung waren wir auch noch nicht angeschlossen und hatten deshalb einen eigenen Brunnen. Der musste auch gewartet werden, ich war da meistens mit dabei. Einmal befand sich eine Ringelnatter darin, die dann mühsam entfernt wurde. Meine Tante hat dann in der Küche den Wasserhahn aufgedreht und eine halbe Stunde laufen lassen, bis wieder sauberes Wasser floss. Der Brunnen befand sich am Waldrand etwas höher gelegen als das Haus. Der Druck reichte aus, um fließendes Wasser in der Küche zu haben.

      Ja und da wäre noch die Sache mit dem Häuschen hinterm Haus. Sprich Klo, sehr gewöhnungsbedürftig. Ein Bretterverschlag und Türe mit Guckloch zum raus schauen. In einem Absatz aus Holz befand sich ein rundes Loch über einer tiefen Grube. Zeitungspapier hing darin. Klopapier dreilagig gab es nicht. Sobald man die Türe öffnete, schlug einem ein atemberaubender Geruch entgegen. Das sollte sich aber bald ändern.

      Im Sommer ist auch der Bruder meiner Großmutter, mit seiner Frau, aus Hamburg nach Bayern gekommen. Sie wohnten in Großmutters Elternhaus, das jetzt ihrem Bruder Theo gehörte und nur ein paar Kilometer von uns entfernt war. Den Hof konnte man von unserem Haus aus sehen. Immer wenn sie da waren, besuchten sie reihum ihre Verwandten, so auch uns. Sie galten als reich, denn sie besaßen eine Fabrik und sind mit einem schicken Auto gekommen. Jedes Mal schimpften sie über die schlechten Straßen, mit den vielen Schlaglöchern. Da sie keine Kinder hatten konnten sie sich alles leisten. Wie sie nun in unseren Hof eingefahren sind, standen wir schon erwartungsvoll da, um sie zu empfangen. Als sie die Autotür aufgemacht haben, ist die toll angezogene (aufgetakelte) Schwägerin meiner Großmutter ausgestiegen. Dabei fiel mein Blick in das Innere des Autos. Auf der Fußmatte sah ich einen ganzen Karton mit Schokolade stehen. Er war schon geöffnet und es fehlten einige Tafeln. Meine Vorfreude stieg ins Unermessliche, denn bei uns, gab es diese Köstlichkeiten nur zu Weihnachten. Eine Tüte mit trockenen Keksen hielt sie in der Hand, die hat sie meiner Großmutter aufs Bett gelegt. Mich hat sie gar nicht angesehen. Na ja, dachte ich, wenn ich besonders nett bin und brav, dann wird sie mir vielleicht eine Tafel Schokolade geben, bevor sie wieder abfahren. Lange sind sie nicht geblieben, bei uns war es ihnen zu einfach. Oder sie wollten sich das Elend meiner Großmutter nicht länger ansehen.

      Wir haben sie hinausbegleitet und ich stand ganz aufgeregt da.

      Die Autotür wurde aufgemacht und da lag die schöne Schokolade. Ich hätte so eine Kostbarkeit wenigsten auf den Sitz gelegt und nicht auf die Fußmatten. Mein Mund wurde ganz wässrig, aber mich haben sie immer noch keines Blickes gewürdigt. Und dann sind sie abgefahren und haben noch kurz gewunken. Ich konnte nicht winken, denn ich war so enttäuscht. Ich habe keine Schokolade bekommen. Tante Irma hat mich getröstet und gemeint: »Sie haben keine Kinder und kennen keine Not. Außerdem sind Reiche immer auch geizig.« Vergessen habe ich diese Erfahrung nie.

      Im Sommer ist das Bett meiner Großmutter in die Wohnstube gestellt worden. Von dort konnte sie den Vorplatz des Sägewerks durch das Fenster beobachten. So nahm sie am Geschehen, wenn auch nur aus der Ferne teil.

      Eines Tages ist mit der Post ein großes Paket, von einem bekannten Versandhandel, gekommen. Der große Karton wurde zur Großmutter in die Wohnstube getragen und dort geöffnet. Neugierig schaute ich zu, wie es ausgepackt wurde. Großvater hat seinen drei fleißigen Töchtern, je ein Kleid spendiert. Sofort sind sie anprobiert worden und sie schienen auch zu passen. Zwei rostrote Kleider mit weißen Tupfen, eins mit Falten, das hat mir ganz besonders gut gefallen, das andere gerade geschnitten mit Schlitz.

      Tante Irma hat für sich, ein gedecktes Braunes bestellt. Nur ich habe nichts bekommen.

      Meine Großmutter meinte zu mir: »Diese Tupfenkleider sehen aus wie Kinderkleider. Das wäre doch was für dich. Zieh es doch einmal an.« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und bin hineingeschlüpft. Ich habe mich großartig gefühlt, aber es war viel zu lang. »Schön schaust du aus«, sagte meine Großmutter, »nur ein bisschen zu lang aber das ist nicht so schlimm. Da gibt es eine Schere und dann ist es gleich gekürzt, und dann passt es dir.«

      Meine Mutter und die beiden Tanten haben dazu nur gelacht. Sie haben noch andere Sachen aus dem Paket geholt und begutachtet. Derweil schlich ich mit dem Tupfenkleid mit den schönen Falten heimlich und unbemerkt in die Küche und habe das Kleid auf dem Küchentisch ausgebreitet. Kurzerhand die Schere angesetzt und abgeschnitten. Schief natürlich, wie sich später herausstellte. Dann habe ich das Kleid angezogen. Voll Freude bin ich in die Wohnstube zu den anderen gegangen, um ihnen zu zeigen, dass das Kleid jetzt passt. Ihre Gesichter waren nun nicht mehr fröhlich. Meine Mutter, war so überrascht, sie konnte gleich gar nichts sagen. Meine Großmutter hat die Schuld sofort auf sich genommen.

      »Wenn ich nicht gesagt hätte, dass es zu lang ist und es abgeschnitten werden müsste, hätte sie es bestimmt nicht getan.« Dabei hat sie ein bisschen geschmunzelt. Meine Mutter war richtig erzürnt und sie hätte mich am liebsten verhauen. Aber meine Tante Irma hat sich vor mich gestellt. Leider konnte man das abgeschnittene Stück Stoff nicht mehr annähen, weil es so krumm und schief war. Für meine Mutter ergab es nur noch eine Bluse.

      Jedes Mal, wenn sie die Bluse getragen hat, wurde ich auf meine Missetat hingewiesen und es trafen mich ihre vorwurfsvollen Blicke.

      Weihnachten habe ich hier das erst mal bewusst erlebt.

      Das Bett der kranken Großmutter wurde in die gute Stube gestellt. Damit