Ich fand ihn nicht.
Im Schein der nächstgelegenen Straßenlaterne zog ich die Aufzeichnungen aus meiner Jackentasche. Wenn ich mich nicht täuschte… Da stand es:
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Bin ich abgebogen? Soweit ich weiß, bin ich immer gerade an der Mauer entlanggegangen. Aber hier ist sie nicht. Ich denke nach, rufe mir meinen Weg ins Gedächtnis. Da war die Kreuzung. Die alte Markthalle im Nebel, gegenüber auf der anderen Straßenseite. Die kleine Gasse an der Mauer entlang, immer geradeaus. Die alten Laternen und die seltsamen Häuser. Keine Autos, keine Hausnummern.
Mich überkommt das Bedürfnis, einfach irgendwo zu läuten. Um herauszufinden, wer hier wohnt. Doch dazu müsste ich zuerst eines der Tore öffnen und in den Vorgarten treten. Und was sollte ich dann sagen?
Guten Abend. Wohnen sie hier? Warum haben sie kein Auto?
Mit Sicherheit sind die Tore ohnehin verriegelt. Und ich kann schließlich nicht einfach so über den Zaun klettern. Ich greife trotzdem zwischen den Metallstäben hindurch, drücke von innen die Klinke und das Tor öffnet sich. Mit wenigen Schritten durchquere ich den Vorgarten und stehe dicht vor einer massiven schwarzen Holztür mit Goldbeschlägen. Mit zwei kräftigen Zügen betätige ich die Glocke. Wie das Läuten von San Marco in der totenstillen Mittagshitze dröhnen die beiden Schläge durch die Finsternis.
Einmal, zweimal.
Ich stehe regungslos auf dem Absatz und verfolge das Echo, wie es über die Dächer der Stadt in die Ferne tanzt.
Einmal, zweimal.
Ich kann mich nicht rühren. Erstarrt blicke ich auf die schwarze Tür wenige Zentimeter vor mir und versuche auf alles gefasst zu sein, egal welchem Gesicht ich gleich gegenüberstehe.
Langsam, ganz langsam verliert sich der Schall in Regen, Nebel und Dunkelheit. Hoffentlich bleibt es still. Hoffentlich rührt sich nichts. Hoffentlich stört kein Laut von drinnen die Dunkelheit, keine Schritte auf der Treppe, kein Klicken des Schlosses, kein Knarzen der Tür, keine Frage: Wer ist da?
Hoffentlich.
Ich stehe vor dem Haus.
Die Fenster sind schwarz.
Die Stille ist vollkommen.
Kein Hund heult, kein Wind pfeift, sogar der Regen ist stumm. Geräuschlos fallen seine dünnen Tropfen in die Pfützen.
Ich höre die Glockenschläge.
Weit weg von hier, irgendwo am anderen Ende der Stadt, tanzen sie über die Dächer. Und irgendjemand hört sie dort. Hört ihr Echo leiser werden, bis sie auch ihn verlassen haben. Und Stille ihn umgibt.
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Als ich aufblickte, sah ich deutlich die kleine gusseiserne Glocke neben der schwarzlackierten Eingangstür. Konnte das wahr sein?
Mein Herzschlag verschnellerte sich, ich hielt inne, schloss die Augen und lauschte mit bebendem Brustkorb den Schlägen der Glocke. Hier in der Stille. Verfolgte ihren Klang, der nicht mehr da war, über die Dächer hinweg.
Einmal, zweimal. Einmal, zweimal.
Ich trat zurück. Den Kopf im Nacken, den Blick auf die Fenster gerichtet.
Ein Licht ging an.
Matt und weich, wie von Kerzen oder einer Öllampe. Es flackerte, tanzte. Und wurde ruhig.
Stoffe bewegten sich. Eine Spiegelung. Eine Gestalt.
Einen Augenblick nahm ich das bodenlange, verschwenderisch verzierte Nachthemd wahr, bevor die Frau sich in einen Mantel hüllte. Sie stand da, den Kopf zur Seite geneigt, wie ein Schwanenhals wuchs ihre sanft geschwungene Gestalt über das Geländer des Balkons im ersten Stock empor. Makellose Jugend auf den schneeweißen Wangen, Geist und Erfahrung in den großen dunkelgrünen Augen. Stolz und Eigensinn im hochgesteckten blutroten Haar.
Obwohl ihre aristokratische Haltung kein Anzeichen von Ängstlichkeit besaß, war ihr die Situation unheimlich. Sie musterte mich mit angespanntem Blick.
Bist Du es? fragte sie nach einer Weile.
Bin ich wer? entgegnete ich verunsichert.
Sie schloss die Tür, löschte das Licht und war verschwunden. Ich starrte noch ein paar Sekunden auf das Fenster.
Stumpf und dunkel lag das Zimmer da, kein Schatten, keine Bewegung. Nur Stille.
Der Regen schwebte hinab. Noch immer kein Geräusch. Manchmal vergeht die Zeit schneller.
Ich saß vor einem Bildschirm und betrachtete mich selbst. Der Film lief in Zeitlupe. Die Bewegungen flossen zäh und gleichmäßig.
Ton aus.
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Hören Sie, sagt der alte Mann vor mir an dem verschraubten Metalltisch in dem weißhomogenisierten Raum. So langsam habe ich das Gefühl, Sie kennen den ominösen Verfasser dieses geheimnisvollen Manuskripts sehr viel besser, als Sie mir weismachen wollen…
Mittlerweile ja, wende ich mit gedämpfter Stimme ein.
Und unterbrechen Sie mich nicht! Es geht hier angeblich um einen Fund von 20 Kilo Kokain. 20 Kilogramm. Ko-ka-in! Wollen Sie demnächst geneigt sein, mir zu erklären, was diese romantische Eskapade damit zu tun hat.
…ich bin ja gerade dabei, entgegne ich widerspenstig.
Zuerst will ich wissen, woher Sie diese Tasche haben.
Ich habe sie gefunden.
Gefunden, soso. Und wo? Beim Staubwischen? Oder im Nachlass ihrer Großtante?
Eigentlich habe ich diese Tasche nicht gefunden, eigentlich hat er das getan…
Er…?
Ja, aber das ist eigentlich gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, warum er … beziehungsweise: ich … oder besser gesagt: wir! diese Tasche gefunden haben. Und warum ich damit ausgerechnet zu Ihnen gekommen bin.
Aha. Und warum ist das so wichtig?
Damit Sie ihn verstehen! Damit Sie die wahren Motive seines Handelns nachvollziehen können… Er ist kein schlechter Mensch, kein Verbrecher – ganz im Gegenteil! Und es geht ihm nicht um Geld oder irgendeinen billigen Nervenkitzel…
Worum geht es ihm dann?
Das kann ich Ihnen nicht sagen.
Der Alte legt die Stirn in Falten.
Ich kann es Ihnen nur erzählen…
DEWIL
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Die Feuchtigkeit begann, in meine Kleider zu kriechen, und ich war des Umherirrens müde. Der Rückweg war mir egal, ich würde einfach weitergehen, bis ich irgendwo auf eine U-Bahnstation oder einen Taxistand stieß. Noch ahnte ich nicht, dass ich das Geheimnis um Sherlock Holmes, Dorian Gray und Joe N.K. Harting bald lüften sollte…
Ich bog irgendwo ab.
Zwei