Die dunkle Seite der Schickeria: Drogenhandel beim Nobelitaliener? las ich als Schlagzeile in der Zeitung, die in eine Holzschiene gespannt vom Kleiderhaken hinter der Scheibe des Cafés baumelte.
Ich nahm die Zeitung vom Haken und blätterte sie durch. Offenbar hatte das Landeskriminalamt in Zusammenarbeit mit der Polizei großangelegte Razzien in italienischen Lokalen im gesamten Stadtgebiet durchgeführt. Von insgesamt mehr als 30 Betrieben war die Rede. Darunter auch ein von der lokalen Schickeria gern frequentiertes In-Restaurant namens Bellagio. Die Betreiber würden mit dem Kokaingeschäft in Verbindung gebracht. Bisher war nur bekannt, dass über 20.000 Seiten Akten sichergestellt wurden. Die Ermittlungen dauern an.
Desweiteren war mal wieder von einer Wirtschaftskrise die Rede: sinkende Nachfrage in den USA, Kursverluste an den Börsen, Geschäftsklimaindex, IFO-Institut, geringeres Wirtschaftswachstum, angespannte Arbeitsmarktsituation, die EZB senkt den Leitzins.
Schwerer Verkehrsunfall auf der Autobahnumgehung Ost, Abstiegs-Chaos in der Fußball-Bundesliga…
Fast den ganzen Nachmittag verbrachte ich in dem kleinen Café, blätterte in der Zeitung, beobachtete die Passanten und versuchte mir zusammenzureimen, an welcher Art Geschichte der unbekannte Autor gearbeitet haben konnte. Doch in Wahrheit wartete ich nur darauf, dass er plötzlich leibhaftig vor mir stehen würde.
Es dämmerte bereits. Und als nach Stunden immernoch niemand aufgetaucht war, der als der unbekannte Autor infrage kam, gab ich das Warten auf. Meine einzige Hoffnung bestand darin, in seinem Text auf weitere Spuren zu stoßen. Und ich sollte bald fündig werden:
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Langsam verblüht der Tag vor meinem Fenster. Und es wird Abend.
Wie viele Lieder der Nacht schon gesungen wurden! Mit Lauten und Harfen und Flöten und Hörnern, in Versen und Strophen, Balladen und Oden, geschrieben von weißen und schwarzen Händen, von kleinen und großen, groben und zarten, aus den Kehlen von Müttern und Männern und Kindern, an all den wunderlichen Orten dieser Erde, über die sich je ein Sternenhimmel wölbte, in eisigen Höhen und südlichen Buchten, in schattigen Gärten und Meeren aus Häusern, in all den wundersamen Sprachen und Schriftzeichen dieser Welt, durch alle Epochen und Jahrhunderte. Und doch darf es jeden Tag eines mehr sein, wenn sich das Wunder der Abenddämmerung wiederholt.
Die Nacht legt sich besänftigend auf die Welt wie der erste Schluck Schnaps einen Hauch von Milde in das verhärmte Gesicht eines bösen alten Mannes zaubert. Sie ist ein Schleier, der die Wirklichkeit weichzeichnet. Und alles ein bisschen ferner und leichter erscheinen lässt. Wärme breitet sich im spärlichen Licht meines Zimmers aus. Die Betonwand vor dem Fenster ist zurückgewichen und im Schatten der Straßenlaterne darunter könnten sich geheimnisvolle Dinge ereignen. Wenn es noch Wunder gibt, dann geschehen sie jetzt. Ich streife die Jacke über, stecke Dorian Gray in die Tasche und trete vor die Tür. Die Laternen spiegeln sich in der regennassen Straße wie Lichter eines Rollfelds, das zu beiden Seiten im Nebel verschwindet. Gleich landet stotternd eine alte Propellermaschine und trägt mich mit grollenden Motoren einem Abenteuer entgegen…
Ich weiß nicht, wie lange ich gelaufen bin. Dieser Teil der Stadt kommt mir bekannt vor, auch wenn ich mich nicht erinnern kann, wann ich zum letzten Mal hier gewesen bin. Schemenhaft erkenne ich auf der anderen Straßenseite die schweren Wände eines alten Backsteingebäudes. Wie ein Fischer, vor dessen Kahn plötzlich die Kaimauer aus dem Morgennebel auftaucht. Wenn ich mich nicht täusche, ist das Gemäuer früher eine Markthalle gewesen. Und zwei Ampeln weiter gelangt man auf die Stadtautobahn. Vorn an der Ecke öffnet sich eine Gasse, die an der verwitterten Mauer entlang führt. Wie feuchtes modriges Holz wirkt das poröse Gestein, in dessen Ritzen sich Moos abgesetzt hat. An einigen Stellen sind Ziegel herausgebrochen, Büsche wuchern durch die Scharten und hängen ihre Zweige über den Gehsteig. Die Straße ist vom Regenwasser aufgeweicht. Zwischen den Teerflecken wölbt sich das darunterliegende Kopfsteinpflaster empor und verwandelt die ehemals ebene Piste in einen sich glitschig dahinwindenden Schlauch. Als würde ich über den schuppigen Rücken eines riesigen feuchten Reptils balancieren.
Erst jetzt bemerke ich, dass in diesem Teil der Stadt offenbar die verschnörkelten gusseisernen Straßenlaternen der Jahrhundertwende erhalten geblieben sind, die mich immer an das viktorianische London aus englischen Romanen erinnern. Auch die Häuser erscheinen mir ungewohnt. Schmale und langgestreckte, sich eng aneinander schmiegende Ziegelsteingebäude, von weißen Säulen und Simsen durchsetzt, die Fassaden im Erdgeschoss mit grün, schwarz oder bordeauxrot lackiertem Holz verkleidet, gesäumt von filigran geschwungenen Messingzäunen. Ich wüsste nicht, in welchem Viertel derartige Architektur überdauert haben könnte – meines Wissens nach hat es sie hier in dieser Form überhaupt nie gegeben. Ich muss tatsächlich einen Bezirk meiner Stadt entdeckt haben, der mir in all den Jahren völlig unbekannt geblieben ist.
In keinem der Fenster brennt Licht und kein einziges Auto parkt vor den Toren. Trotzdem wirken alle Gebäude sorgfältig gepflegt, nirgends sind Anzeichen von Verfall auszumachen, sodass ich nicht einschätzen kann, ob diese Behausungen bewohnt oder unbewohnt sind.
Doch nirgendwo eine Hausnummer, nirgendwo ein Name, nichtmal Briefkästen scheint es zu geben. Und mir fällt auf, dass anstelle herkömmlicher Klingeln altmodische Glocken neben den Eingangstüren angebracht sind.
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Die Aufzeichnungen des jungen Mannes begannen mich zunehmend zu verwirren. Zu seinen kryptischen Notizen Holmes und Harting hatte sich nun auch noch Dorian Gray gesellt.
Ich überlegte, wann ich die Geschichte zuletzt gelesen hatte, und durchforstete zuhause sofort mein Bücherregal.
Zwischen unzähligen zerfledderten Reklamheftchen aus meiner Schul- und Studienzeit, die mit Zeichnungen und Sprüchen verschmiert waren, fand ich tatsächlich eine Ausgabe von Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray, die bis auf eine leichte Staubschicht einen tadellosen Eindruck machte.
Ich warf mich aufs Bett und begann zu lesen: Es gibt kein moralisches oder unmoralisches Buch. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles…
Zum ersten mal wurde mir bewusst, dass Sherlock Holmes und Dorian Gray in derselben Epoche angesiedelt sind – einem ähnlichen Gedanken muss auch der geheimnisvolle Autor gefolgt sein!
Wenn Holmes sein Ausgangspunkt war (vielleicht handelte es sich bei seiner Bemerkung zu Harting nur um eine stilistische Notiz) und wenn er die gleiche Idee hatte wie ich, nämlich die Drogenabhängigkeit und charakterlichen Untiefen des Sherlock Holmes zum Thema seiner Arbeit zu machen, dann war Dorian Gray vielleicht so etwas wie sein zweites Ich. Sein sinnlicher, irrationaler Widerpart…?
Es war noch nicht spät. Ich steckte die zerfledderte Reclam-Ausgabe in die Hosentasche und fuhr ins alte Schlachthofviertel, um mich bei dem verfallenen Gebäudekomplex umzusehen, in dem sich früher die Großmarkthalle befunden hatte.
Das Kopfsteinpflaster löste sich vor mir in der Dunkelheit auf, ich erkannte die verwitterte Mauer, hinter der die mächtige Backsteinruine vor dem Nachthimmel gähnte. Und obwohl ich keine viktorianische Architektur, Gaslaternen oder vertäfelte Fassaden ausmachen konnte, wirkte meine Umgebung dennoch wie eine dreidimensionale Leinwand, auf der die Erinnerungen des jungen Künstlers wie Projektionen sichtbar wurden.
Ein Straßenname!
Ich machte mich auf die Suche nach irgendeinem Schild, einer Straße, einem Platz, dem Namen einer Bar oder eines Ladens – um eine Referenz zu haben. Um zweifelsfrei sicherstellen zu können, dass ich mich gerade im Moment in derselben Gegend befand, sollte dieser Name irgendwo auf den folgenden Seiten des Manuskripts auftauchen…
Tiefer und tiefer wand ich mich in die Eingeweide aus Gassen, Brücken, Winkeln und Torbögen hinein, bis ich die Orientierung verloren hatte. Regen setzte ein.
Und plötzlich rannte ich los. Ich lief die Straße zurück, die ich