Sherlocks souveräne, unnahbare, überlegene Erscheinung hat sich in die eines bemitleidenswerten Clowns verwandelt. Sein Blick ist leer, sein von scharfen Falten durchzogenes Gesicht wirkt nicht länger mondän und charismatisch, sondern müde und alt. Sein Körper ist nicht mehr drahtig sondern kränklich und eingefallen, die Finger zittrig, Sherlock ist blass, kalter Schweiß ist ihm auf die Stirn getreten und das Herz rast ihm in der Brust, als wolle es seine Knochen durchbrechen und diese todgeweihte Hülle verlassen, damit sie langsam und friedlich ausbluten kann.
Sherlock sieht sich im Raum um. Die Kerzen scheinen matter, das Holz dumpfer und das Gemälde an der Wand künstlicher als zuvor. Und plötzlich denkt er an das Atelier Basil Hallwards. Lord Henry. Und Dorian Gray.
Und ihm wird klar, dass er den mysteriösen Schleier aus Schönheit vom Antlitz der Welt gerissen hat, um dahinter die wahre Natur der Dinge zu entblößen! Und er fragt sich: Kann das alles ein Zufall gewesen sein? Oder musste ich hierher kommen, um in dieser Nacht meinem Dämon zu begnen?
Und einer göttlichen Erleuchtung gleich weiß er, dass seine Existenz nur zu retten ist, wenn er einen Ausweg aus seinem absurden Dilemma, eine Antwort auf die eine diabolische Frage findet.
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Zwei Männer an einem Tisch. Sie sitzen. Einander gegenüber. Die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, die Finger verschränkt. Ihre Köpfe zwischen die Schultern gesunken, bis zu den Ohren. Wie zwei Geier. Zwischen ihnen nur eine Kerze, deren Schimmer auf ihren Gesichtern tanzt. Während die Dunkelheit ihre gekrümmten Körper verschlingt.
Der eine ist drahtig und groß, trägt schottisches Karo, wie ein Schnabel wächst seine Nase aus dem hageren Gesicht.
Der andere ist noch größer. Er sitzt aufgetürmt wie ein Berg, wie eine Welle aus schwarzem Wasser. Kurz davor, zu brechen und ihr Gegenüber unter sich zu begraben. Doch seine Bewegungen sind filigran, zärtlich beinahe. Ein Balletttänzer, gefangen im Körper eines Zyklopen. Weißes Hemd, weiße Haut. Sonst nur schwarz. Schwarzer Rock, schwarzes Haar, schwarze Augen. Penibel manikürte Hände.
Die beiden Männer sitzen einander gegenüber. Ihre Augen sind schmal, ihre Blicke funkeln. Wie langsam wachsende Blitze aus Eiskristall bohren sie sich ineinander…
Sagen Sie mir, mein lieber Holmes, beginnt Moriarty das Gespräch: Wie halten Sie es mit der einen, uralten, der Mutter aller Fragen? Dem ewigen Rätsel unseres menschlichen Daseins? Seine Stimme ist hell, dünn und schneidend.
Sie meinen die Frage nach dem Warum? Dem … Sinn des Lebens? antwortet Sherlock. Nun, ich betrachte mich als deduktiv arbeitenden Wissenschaftler. Und da in dieser Frage kein Beweis für die Überlegenheit irgendeiner Theorie existiert, muss ich konstatieren: Wir wissen es nicht. Sherlock ist nervös – doch er hat seinen Körper und seinen Verstand unter Kontrolle.
Exakt, antwortet Moriarty. Sein Ton ist dozierend. Gönnerisch. Obwohl sich Myriaden philosophischer, geistlicher und naturwissenschaftlicher Autoritäten die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch angeschickt haben, dieser ältesten aller Fragen eine Antwort abzuringen, enden all ihre mehr oder minder erwähnenswerten Versuche in der immer gleichen profanen Feststellung: Wir wissen es nicht.
Ich bin ganz Ihrer Meinung, entgegnet Sherlock. Seit Sokrates erschöpft sich unser Wissen in dieser Erkenntnis: Ich weiß, dass ich nichts weiß - diese sechs Worte sind der Anfang und das Ende des metatheoretisch Verbürgten. Die erste und bisher einzige philosophische Erkenntnis.
Aber jetzt wird es interessant mein Lieber, passen Sie auf! fährt Moriarty fort. Für unser Universum ergeben sich daraus genau zwei mögliche Morphologien. Erstens: Angenommen es handelt sich bei unserer Erde, unserem Sonnensystem, unserer Milchstraße mit ihren 100 Milliarden Sternen und unvorstellbar vielen Planeten, beim gesamten Universum mit seinen 100 Milliarden Galaxien, 100 Milliarden mal 100 Milliarden Sternen und unendlich vielen Planeten um ein Zufallsprodukt, um die schlichte und grundlose – wenngleich über alle Maßen kolossale – Ansammlung von Wasserstoff und Helium, ohne Plan und ohne Ziel, die sich über die Jahrmilliarden zu Sternensystemen, Planeten und letztlich zu uns selbst verdichtet hat, wie Milch zu Klumpen wird, wenn sie lange genug steht – dies angenommen ist es nur allzu logisch, dass wir den Grund oder Sinn unseres Daseins nicht kennen. Denn es gibt ihn nicht.
Mit Möglichkeit zwei verhält es sich dagegen ungleich komplizierter. Denn vorausgesetzt, es gibt diese eine Ursache für unser Dasein, die von den Akademikern Entität und von den meisten Menschen Gott genannt wird…
…dann bleibt sie absichtlich unsichtbar, ergänzt Sherlock unbeeindruckt. Die eine Macht, die das Menschengeschlecht geschaffen hat und die zehn Trilliarden Sterne, die uns am Nachthimmel leuchten, enthält uns die Erkenntnis ihrer selbst absichtlich vor.
So ist es! so ist es! Diese … Macht, Kraft oder Gottheit hat uns auf einem Gesteinsbrocken von exakt berechneter Größe und Entfernung zur Sonne eine Heimat gegeben, sie hat uns ein Magnetfeld, einen Magmakern und eine Atmosphäre geschenkt, uns mit Land und ausreichend Wasser versorgt. Sie hat uns mit der Zauberkraft der Evolution ausgerüstet, hat gesehen, wie aus chemischen Verbindungen organische wurden, wie Ratten ins Meer gingen und sich in Wale verwandelten, wie Affen von den Bäumen stiegen, Tiere jagten und Feuer machten. Sie hat uns gesehen, wie wir begannen, unsere Toten zu bestatten, Kriege zu führen, zu beten und unsere Kinder zu lieben.
Und sie hat gesehen wie wir fragten, fügt Sherlock hinzu. Wie mit unserem Verstand unser Wissensdurst ins Unermessliche wuchs. Wie Menschen sich auf die gefährlichsten Reisen begaben, um Wissen zu erlangen, und wie sie sich foltern ließen, um es zu verteidigen. Sie hat gesehen, wie mit jeder Antwort zwei neue Fragen entstanden. Wie unser vom Fortstreben besessener Geist sich in einer nach zwei Seiten gerichteten Unendlichkeit verlor, die in den abermilliarden Lichtjahre entfernten Weiten des Universums immer größer und in den Miniaturen der Elementarteilchen immer kleiner wird. Sie hat gesehen wie wir uns quälten. Wie wir schließlich scheiterten und verzweifelten. Da wir erkannten, dass es alles ist, was wir erhoffen können, irgendwann das Wie zu verstehen. Wenn die Wissenschaft den letzten Winkel der Dunkelheit um uns herum ausgeleuchtet hat. Während das Warum immer verborgen bleiben wird…
Jeden Tag, entgegnet Moriarty, wälzen wir ein neues Gedankenkonstrukt den Berg hinauf, von dem wir hoffen, dass es unser Dasein erklärt – und am Ende steht immer das gleiche Ergebnis: So könnte es sein. Oder anders. Wir wissen es nicht.
Und obwohl die Macht, die uns geschaffen hat, diese verzweifelten Bemühungen sieht, das klägliche, wimmernde Betteln in unseren Augen, verwehrt sie uns unseren sehnlichsten Wunsch und lässt uns zappeln wie Würmer am Haken. Allein. Ohne Antworten.
So weit, so unbeeindruckend, resümiert Sherlock. Bis hierher scheinen wir im Großen und Ganzen übereinzugehen…
Bis hierher! Aber gleich wird Ihnen der fundamentale Unterschied unserer Positionen bewusst werden… Denn unser beider Existenzen speisen sich aus zwei gänzlich gegensätzlichen Voraussetzungen. Ihre Existenz, mein lieber Holmes, gehorcht ganz und gar der Notwendigkeit. Sie ist abhängig von Bedingungen, die Sie selbst nicht beeinflussen können. Und trotz Ihrer unbestritten ganz und gar nicht gewöhnlichen Persönlichkeit, unterscheiden Sie Sich darin keinen Hauch von all Ihren völlig gewöhnlichen Mitmenschen.
Sie