Sonnig mit heiteren Abschnitten. V. A. Swamp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: V. A. Swamp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742768407
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Eine solche Stadt hatten wir bis dahin nicht erlebt. Abends in der Jugendherberge erfuhren wir dann vom Kloveniersburgwal.

       Kloveniersburgwal?

       Wir fuhren am nächsten Tag dorthin. Es war die Nuttengegend der Stadt. Ich hatte schon von einem Puff gehört, aber in Wuppertal fand sowas nicht vor unseren Augen statt. Hier am Kloveniersburgwal räkelten sich die Damen in ihren Schaufenstern. Das war einer der aufregendsten Schaufensterbummel meines Lebens. Ich wollte nur gucken, da schrie jemand auf der gegenüberliegenden Straßenseite: “Hier Leute! Hier ist eine, die macht es für fünf Gulden.” Das waren, soweit ich mich erinnere, etwa fünf bis sechs Mark. Für ein solch ungewöhnliches Erlebnis, von dem wir bislang nicht einmal zu träumen gewagt hatten, keinesfalls zu viel.

       Es sammelten sich sieben oder acht Jungs vor dem besagten Haus und die Nutte, ein schon etwas älteres Modell, stand in aufreizender Position im Türrahmen. Nachdem sie kassiert hatte führte sie uns in einen halbdunklen Raum. Die spärliche Möblierung bestand aus einer Art Pritsche, einer kleinen Konsole und einem Waschbecken. Die Dame göttlicher Freuden schaute uns an und fragte in ulkigem Deutsch, wer von uns dran sei. Wir waren irritiert. Sollten wir wirklich auf sie drauf steigen, während alle anderen zuschauten? Zunächst fand sich kein Freiwilliger und die Nutte wurde ungeduldig. Dann hob einer ängstlich, wie in der Schule, seinen Zeigefinger.

       Mit dem Freiwilligen absolvierte die Nutte einen farblosen Quickie. Ich glaube, dem Typ ist es schon, bevor er in ihr drin war, vor Aufregung gekommen. Gesehen habe ich jedenfalls nicht viel. Ich war halb gelähmt vor Angst, aber jetzt sah ich das Unvermeidliche auf mich zukommen. Aber diese kurze Vorstellung war alles, was uns für unsere fünf Gulden zustand. Schließlich hatten wir uns freiwillig für die Zuschauerrolle entschieden. Ich war danach froh, dass dieser Kelch an mir vorbeigegangen war.

       War es Ihr erstes sexuelles Erlebnis?

       Ich sagte ja schon, ich wuchs in einer spießigen sexfeindlichen Umgebung auf. Es gab ja damals noch kein Pornozeug, was man heute praktisch an jeder Ecke bekommt. Und wenn es das gab, dann hatte ich keinen Zugang dazu. Mir blieb nur ein Buch meines Vaters, in welchem Sportler im FKK-Bereich gezeigt wurden. Auch der Neckermann-Katalog war interessant, weil da Mädchen in Unterwäsche abgebildet waren. Wuppertal gab sich schon immer einen frommen Anstrich. Es ist auch heute noch die Stadt der Sekten. Über neunzig sollen es sein. Auf meinem Schulweg kam ich täglich an einer katholischen, zwei evangelischen und einer Menge von Sekten betriebenen Häusern und Einrichtungen vorbei. Das Einzige, was mich allerdings interessierte, war die katholische Kirche.

       Sind Sie katholisch?

       Nein, es ging mir ja auch gar nicht um das Gotteshaus, das war mir egal. Wichtig war der Aushangkasten rechts neben dem Kircheneingang. Dort veröffentlichte jede Woche der KATHOLISCHE FILMDIENST seine Rezensionen über neu in die Kinos gekommene Filme. Man musste diese Bewertungen nicht im Einzelnen studieren. Es genügte, die als „nicht empfehlenswert“ eingestuften Kinoprodukte zur Kenntnis zu nehmen. Dann wusste man, welche Filme man unter allen Umständen sehen musste. Viele dieser Filme waren damals nur für Erwachsene zugelassen. Da ich sehr groß war, gelang es mir oft, mit den entsprechenden Verkleidungen ins Kino zu kommen. Aber vielfach war die Enttäuschung groß. Selbst in einem aufs Schärfste indizierten Film wie DAS SCHWEIGEN von Ingmar Bergmann war nicht das zu sehen, was ich erhofft hatte.

       Wie ging es weiter in Amsterdam?

      Ich bin dann etwas verwirrt und eher ziellos durch die Stadt gelaufen und habe mir in einem Spielzeuggeschäft von meinem letzten Geld ein kleines Tonbandgerät gekauft. Ich hatte schon immer einen Faible für Spielereien dieser Art. Das Ding hat natürlich nichts getaugt. Als ich den Laden verließ, stand da dieses Mädchen. Das lächelte mir zu. Für einen Moment überlegte ich, ob sich eventuell das surreale Erlebnis vom Kloveniersburgwal nun an anderer Stelle wiederholen würde. Sie kam auf mich zu und fragte nach der Uhrzeit. Sie war ein nettes Ding mit einem breiten freundlichen Gesicht, Kulleraugen, langen dunkelbraunen, leicht gewellten Haaren, und einer schlanken Figur. Ich fasste mir ein Herz und lockte sie in ein nahe gelegenes Café. Sie sprach ganz passables Deutsch. Nach zwei Stunden und etlichen Colas wollte sie gehen. Da fiel mir ein, dass ich mein ganzes Geld in dem Spielzeugladen gelassen hatte.

       Das Mädchen musste die Zeche bezahlen?

      Ja, allerdings erst, nachdem ich über den Hinterausgang geflüchtet war. Das tut mir noch heute ein bisschen Leid.

       Und dann?

       Unsere Hollandreise endete sehr schnell. Auch meine Mitreisenden waren pleite. Wir erhielten den Tip, bei der Polizei den Diebstahl unseres Geldes zu melden. Dann würde man uns schon helfen. Man half, indem man uns und unsere Räder kurzerhand in ein Polizeifahrzeug verfrachtete und uns mit anderen Gestrandeten auf dem kürzesten Weg zur deutschen Grenze fuhr. Da standen wir dann mit leerem Magen und ohne Geld. Wir kamen weit nach Mitternacht todmüde und halbverhungert bei unseren Eltern an.

       Haben Sie weitere Reisen mit Ihren Freunden gemacht?

      Ich überlege einen Moment. Ich muss Strawinsky von Heinz erzählen.

       Bei einem meiner Schulwechsel lernte ich Heinz kennen. Heinz hatte alles, was ich nicht hatte. Er war ein guter Schüler, er konnte exzellent Klavier spielen, er besaß ein Leichtkraftrad der Marke KREIDLER FLORETT, und er hatte die Taschen voller Geld. Ich hatte nichts von alledem außer vielen flotten Sprüchen und einem ganz leidlichen Aussehen. Da konnte Heinz wiederum nicht mithalten. Da bei Mädchen Hallodris wie ich gemeinhin gut ankommen, waren wir das ideale Paar. Ich spitzte die Mädchen an und Heinz bezahlte die Zeche. Nach der Schule steckten Heinz und ich meist zusammen und dann entdeckten wir unsere Liebe zum traditionellen Jazz. Insbesondere die europäische Variante von Chris Barber, Papa Bue, Ken Colyer, Acker Bilk, Dutch Swing College Band und so weiter begeisterte uns.

       Von da an träumten wir von einer eigenen Jazzband. Die Voraussetzungen waren bei Heinz gegeben, der spielte nämlich ein tolles Boogie-Woogie-Klavier. Ich konnte weder ein Instrument spielen noch singen. Ich wählte dann das Schlagzeug, weil man das auch ohne Noten lesen zu können sich gegebenenfalls einigermaßen selber beibringen kann. Heinz besorgte mir aus dem Fundus einer Feuerwehrkapelle eine große und eine kleine Trommel und vom ortsansässigen Musikgeschäft ein Pedal und ein Becken. Nach ein paar Wochen hatten wir eine passable Schar an Mitspielern zusammen.

       Dann kam die Karnevalszeit. Die war für uns Jungs enorm wichtig, weil wir in dieser Zeit auf willige Mädchen hofften. Diese Hoffnung hat sich aber bei mir nie erfüllt. Heinz hat, ohne uns zu fragen, mit dem Veranstalter eines großen Karnevalsfestes vereinbart, dass wir in der Orchesterpause spielen sollten. Das war natürlich ausgemachter Blödsinn, wir hatten gerade mal drei Stücke in unserem Repertoire und auch die konnten wir nicht richtig spielen. Aber Heinz meinte, das würde reichen. Unser musikalischer Start war holprig, aber das Publikum störte das nicht. Die meisten waren ohnehin schon angetrunken und Jazz war damals in Wuppertal etwas weitgehend Unbekanntes. Wir erhielten freundlichen Applaus. Das ermutigte uns, beim nächsten Stück mehr Gas zu geben, was den Applaus steigerte. Nach dem dritten Stück, es war unglaublich, raste der Saal. Wir wollten zusammenpacken. Eine Art Conférencier kam auf die Bühne, bedankte sich im Namen des Publikums und forderte uns auf, eine Zugabe zu spielen. Wir hatten keine Zugabe, unser Repertoire war erschöpft. Da war es Heinz, der die Situation rettete: Er ging ruhigen Schrittes an das Klavier und hämmerte seinen Boogie-Woogie, bis ihm fast die Tasten um die Ohren flogen. Danach konnten wir den geordneten Rückzug antreten.

       Wir empfanden das Ganze als großen Triumph und der musste gebührend gefeiert werden. Nachdem wir einen Teil unserer Instrumente im Jazzkeller verstaut hatten, zauberte Heinz eine Flasche RACKE RAUCHZART sowie eine Flasche ESCORIAL GRÜN hervor. Das Zeug hatte er aus der Kneipe seiner Mutter mitgenommen.

       Racke rauchzart? Escorial grün?

      „Racke