Doch Keno ist in David’s Augen auf keinen Fall ein professioneller Dom wie Ben. Auch wenn Ben’s distanzierte Art manchmal zu wenig Gemeinsamkeit zulässt, so kann David sich doch darauf verlassen, dass er immer aufgefangen wird, wenn er sich ihm hingibt. Ohne „Wenn und Aber“. Ben hat die Kontrolle – will sie haben – und er hält die Zügel schmerzhaft fest in der Hand.
Keno hingegen – David seufzt bei dem Gedanken an ihn – Keno hat überhaupt nichts unter Kontrolle. Irgendetwas schüttelt dessen ganzes Wesen durch und lässt nicht zu, dass er seine Dominanz in halbwegs geordnete Bahnen lenkt. Er ist wild, ungestüm und ein Chaot vor dem Herrn; ganz klar, dass sich ein Sub wie Mika magisch davon angezogen fühlt. Und wenn dann noch die Liebe, die richtig große verzehrende Liebe, hinzukommt … David presst unbewusst die Lippen aufeinander. Ich muss ihn wachrütteln, denkt er entschlossen.
Einige Stunden später sitzen sie in Mika’s kleinem Wohnzimmer im Schneidersitz auf dem verschossenen Sofa. Eine Pizza musste bereits dran glauben und die Flasche Wein neigt sich dem Ende zu. Mika ist seit langem nicht mehr so locker und halbwegs fröhlich drauf gewesen. David hat ganze Arbeit geleistet.
„Gibt’s eigentlich Neuigkeiten vom großen Meister?“, fragt er schließlich und sein Blick saugt sich geradezu an Mika fest.
Dessen ganze Körperhaltung ändert sich von einer Sekunde auf die andere. Die Schultern sacken nach unten, alle Gesichtszüge ebenfalls. Und Mika’s Blick – Herrgott diese traurigen Augen – Mika’s Blick sinkt zu Boden und klammert sich verzweifelt an einer Teppichkante fest. Er zuckt kurz mit den Achseln.
„Nein“, haucht er betrübt, „das hätte ich dir doch erzählt.“
David räuspert sich kurz. Los jetzt! feuert er sich selbst an. Alle Karten auf den Tisch!
„Mika, sieh‘ mich an“, redet er mit fester Stimme weiter. Und als er Mika’s verlorenen Blick auffängt, spricht er weiter.
„Zeig mir deine Arme, Mika!“, fordert er ihn auf.
Mika’s Augen werden kreisrund vor Schreck. Unwillkürlich fasst er sich an die Unterarme und reibt vorsichtig darüber.
„Nein!,“ wehrt er ab. „Warum denn?“
„Du weißt genau warum!“ David seufzt mitfühlend. „Mika! Was glaubst du, wen du hier vor dir hast?! Du bist nicht der Erste, der sich ritzt, um richtig fühlen zu können.“
Er schiebt sein Hemd ein Stück am Ärmel empor. „Meinst du, ich kenn‘ das nicht?“ Ein paar dünne helle Striche sind auf David’s Haut am Unterarm zu sehen. Mika starrt immer noch mit aufgerissenen Augen zurück, dermaßen ertappt fühlt er sich.
David redet weiter. „Das Schlimmste für Leute wie dich und mich ist, wenn wir plötzlich unsere Gefühle verlieren. Das, was sonst zuverlässig unser Leben bestimmt – und auch oft aus der Bahn wirft – ist auf einmal nicht mehr da. Du fühlst dich abgeschnitten, wie in Watte gepackt und nichts erreicht dich mehr. Zentnerschwere Lasten drücken auf deine Schultern, kein Essen schmeckt mehr, kein Alkohol haut so richtig rein. Keine einzige Emotion berührt dich mehr – außer wenn du dir Schmerzen zufügst.“
Während Mika zuhört, beginnt sein Kopf wie von selbst zu nicken. „Alles ist tot!“, krächzt er und reibt über seine frisch verbundene Wunde. Der Schmerz zieht durch und durch und erlaubt Mika einige Tränen. Hilflos wischt er sie mit dem Handballen weg.
David rutscht näher zu Mika rüber und ergreift eine Hand. Sanft wie mit einem gefangenen Tier redet er weiter.
„Das geht so nicht weiter, Mika! Ich werde nicht zulassen, dass du auf diese Weise dein eigenes Ich zerstörst.“
„Aber was soll ich denn machen??!!“, begehrt Mika auf. Ohne es zu wollen ranzt er David vorwurfsvoll an, als ob dieser Schuld an seiner Misere hätte.
Ja, lass‘ alles einfach raus, denkt David nur und streichelt weiter beruhigend Mika’s Hand.
„Er meldet sich einfach nicht! Ich vermiss‘ ihn so sehr und er … er …“, nach Worten ringend wedelt Mika mit einer Hand herum. „Er lässt mich allein!! Schon wieder!!“ Hektische Schluchzer mischen sich unter seine Sätze. „Und Jana, die … die ist nur noch bei Ed..Edwina. Alle scheißen auf mich! Und ich … und ich …“
Mika hechelt nach Luft. Er kriegt einfach kein Wort mehr raus. Seine Kehle zieht sich wie von selbst zusammen. Er legt seinen Kopf schräg und aus verheulten roten Augen blickt er David geradezu winselnd an. Der wartet nicht länger und zieht Mika nun fest in seine Arme. Beruhigend streichelt er dessen Rücken und wiegt ihn leicht. Nach einigen Minuten atmet Mika tief aus und sein Schluchzen verwandelt sich in ein gelegentliches Schniefen.
David rutscht zurück und reicht Mika ein Weinglas. Mit einem verlegenen Lächeln trinkt dieser einen Schluck und angelt nach einem frischen Tempo auf dem Couchtisch.
„Pass auf, Baby“, setzt David wieder an. „Ich hab auch keine Patentlösungen für alles. Doch auch ich war schon mal so richtig verknallt in einen Typen, der mich nur ausgenutzt und verarscht hat.“
Er hebt abwehrend die Hände. „Schon klar! Ich will damit nicht sagen, dass Keno dich verarscht! Ich will nur die Gefühlslage vergleichen. – Aber, einen Punkt finde ich wichtig für dich, Mika. Lass nicht alles so nah an dich heran! Du musst lernen, bestimmte Dinge aus einer gewissen Distanz zu sehen. Die Sache bei Edwina war wirklich schlimm für dich. Doch wenn du hinfällst, musst du dich nach einiger Zeit berappeln und wieder aufstehen. Das Leben ist nicht vorbei, „nur“ weil dich Jemand verletzt. Ich weiß, das hört sich jetzt ziemlich lapidar an. Doch du darfst deine Situation und deine Gefühle nicht ausarten lassen. Wenn Keno sich nicht im Griff hat, dann musst du es ALLEINE schaffen, mit solchen Dingen klarzukommen. Und ich bin mir sicher, dass du das schaffst. Du bist vielleicht sensibel und sehr gefühlvoll, aber das ist doch nicht alles, was dich ausmacht, oder?“
David trinkt einen Schluck, während Mika ihn nachdenklich anstarrt. Er hat Recht, sickert es in Mika’s Gehirnwindungen. Ich bin doch – verdammt nochmal – kein kleines Kind mehr. Ich war mein ganzes bisheriges Leben sogar stark für Zwei. Ich geh‘ nicht zugrunde, weil mich mal wieder jemand Besonderes fallen lässt. Mika sieht David fest in die Augen.
„Ja“, erwidert er ruhig und die Gelassenheit legt sich wie ein schützendes Pflaster um seinen ganzen Körper.
Später sitzen Sie in David’s Lieblings-Schwulenkneipe, dem „Mars“, an einem gemütlichen Tisch. David erzählt Mika einiges über Ben. Dass er auch anders sein kann, als Mika ihn kennt. Er lässt halt gerne den Macho raushängen und ist durch und durch ein Dom. Da er auf Mika steht, liebt er es, ihn zu verunsichern. Er kann einfach nicht anders. Mika dachte zuerst, er hört nicht richtig, mit welcher Selbstverständlichkeit David darüber spricht. Doch Eifersucht scheint nicht „seine Sache“ zu sein.
„Ich hab dich doch auch super gerne!“, erwidert er auf Mika’s verwunderte Rückfrage. „Du darfst die Sache mit dem Sex nicht überbewerten! Toleranz ist wichtig. Ich bin tolerant, Ben’s Gelüsten gegenüber. Und er … na ja“, lacht David, als er Mika’s skeptischen Gesichtsausdruck sieht.
„Doch!! Ehrlich!!“, beteuert er und schmunzelt in sich hinein. „Ich weiß, … er hat damals so getan, als würde er sich riesig darüber aufregen, dass wir beide spontan im „Kolosseum“ geknutscht haben. Doch eigentlich hätte er uns lieber noch eine ganze Stunde zugeseh’n. Er war echt enttäuscht, dass wir uns nur eine Minute oder so geküsst haben. Die „Strafe“, die ich bekommen hab‘, gehörte doch nur zu unserem Spiel.“
Mika presst grübelnd die Lippen aufeinander. „Keno hat sich wirklich … aufgeregt.“ Er winkt ab. „Aufgeregt ist gar kein Ausdruck!“
David sieht Mika lächelnd an und nimmt einen weiteren Schluck von seinem Bier.
„Weißt du, … ich würde meine Beziehung zu Ben nicht als typische Liebesbeziehung