bezahlt hatte. Bewahrheitete sich meine Vermutung, so konnte ich durch dieses Gedicht auf die Spur der
Gesuchten gebracht werden. Ich las also:
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Die fürchterlichste Nacht.
Kennst du die Nacht, die auf die Erde sinkt
Bei hohlem Wind und schwerem Regenfall,
Die Nacht, in der kein Stern vom Himmel blinkt,
Kein Aug' durchdringt des Wetters dichten Wall?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen;
O lege dich zur Ruh, und schlafe ohne Sorgen.
Kennst du die Nacht, die auf das Leben sinkt,
Wenn dich der Tod aufs letzte Lager streckt
Und nah der Ruf der Ewigkeit erklingt,
Daß dir der Puls in allen Adern schreckt?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen;
O lege dich zur Ruh, und schlafe ohne Sorgen!
Kennst du die Nacht, die auf den Geist dir sinkt,
Daß er vergebens nach Erlösung schreit,
Die schlangengleich sich um die Seele schlingt
Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit?
O halte fern dich ihr in wachen Sorgen,
Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!
Ich gestehe, daß die Lektüre des Gedichtes mich tief ergriff. Mochte man es für literarisch wertlos
erklären, es enthielt doch den Entsetzensschrei eines begabten Menschen, welcher vergebens gegen die
finstern Gewalten des Wahnsinns ankämpft und fühlt, daß er ihnen rettungslos verfallen müsse. Doch
schnell überwand ich meine Rührung, denn ich mußte handeln. Ich hatte die Überzeugung, daß William
Ohlert der Verfasser dieses Gedichtes sei, suchte im Directory nach der Adresse des Herausgebers der
Zeitung und begab mich hin.
Expedition und Redaktion befanden sich in demselben Hause. In der ersteren kaufte ich mir ein Exemplar
und ließ mich sodann bei der Redaktion melden, wo ich erfuhr, daß ich sehr richtig vermutet hatte. Ein
gewisser William Ohlert hatte das Gedicht am Tage vorher persönlich gebracht und um schleunige
Aufnahme gebeten. Da das Verhalten des Redakteurs ein ablehnendes gewesen war, so hatte der Dichter
zehn Dollars deponiert und die Bedingung gestellt, daß es in der heutigen Nummer erscheine und ihm die
Revision zuzuschicken sei. Sein Benehmen sei ein sehr anständiges gewesen, doch habe er ein wenig
verstört drein geschaut und wiederholt erklärt, daß das Gedicht mit seinem Herzblute geschrieben sei -
übrigens eine Redensart, deren sich begabte und unbegabte Dichter und Schriftsteller gern zu bedienen
pflegen. Wegen der Zusendung der Revision hatte er seine Adresse angeben müssen, und ich erfuhr
dieselbe natürlich. Er wohnte oder hatte gewohnt in einem als fein und teuer bekannten Privatkosthause in
einer Straße des neueren Stadtteils.
Dorthin verfügte ich mich, nachdem ich mich in meiner Wohnung unkenntlich gemacht hatte, was mir
nach meiner Ansicht sehr gut gelang. Dann holte ich mir zwei Polizisten, welche sich vor der Türe des
gedachten Hauses aufstellen sollten, während ich mich im Innern befand.
Ich war so ziemlich überzeugt, daß mir die Festnahme des gesuchten Spitzbuben und seines Opfers
gelingen werde, und in ziemlich gehobener Stimmung zog ich die Hausglocke, über welcher auf einem
Messingschilde zu lesen war:
›First class pension for Ladies and Gentlemen‹. Ich befand mich also am richtigen Orte. Haus und
Geschäft waren Eigentum einer Dame. Der Portier öffnete, fragte mich nach meinem Begehr und erhielt
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den Auftrag, mich bei der Dame zu melden; auch übergab ich ihm eine Visitenkarte, welche auf einen
andern Namen lautete als den meinigen. Ich wurde in das Parlour geführt und hatte nicht lange auf die
Lady zu warten.
Sie war eine fein gekleidete, behäbig aussehende Dame von ungefähr fünfzig Jahren. Wie es schien, hatte
sie einen kleinen Rest von schwarzem Blute in ihren Adern, wie ihr gekräuseltes Haar und eine leichte
Färbung ihrer Nägel vermuten ließen. Sie machte den Eindruck einer Frau von Gemüt und empfing mich
mit großer Höflichkeit.
Ich stellte mich ihr als den Feuilletonredakteur der ›Deutschen Zeitung‹ vor, zeigte ihr das betreffende
Blatt und gab an, daß ich den Verfasser dieses Gedichtes sprechen müsse; dasselbe habe solchen Anklang
gefunden, daß ich ihm Honorar und neue Aufträge bringe.
Sie hörte mir ruhig zu, betrachtete mich aufmerksam und sagte dann:
»Also ein Gedicht hat der Herr bei Ihnen drucken lassen? Wie hübsch! Schade, daß ich nicht Deutsch
verstehe, sonst würde ich Sie bitten, es mir vorzulesen. Ist es gut?«
»Ausgezeichnet! Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen zu sagen, daß es sehr gefallen habe.«
»Das ist mir von größtem Interesse. Dieser Herr hat den Eindruck eines fein gebildeten Mannes, eines
wahrhaften Gentleman auf mich gemacht. Leider sprach er nicht viel und verkehrte mit niemand. Er ist
nur ein einziges Mal ausgegangen, jedenfalls als er Ihnen das Gedicht brachte.«
»Wirklich? Ich entnahm aus der kurzen Unterhaltung, welche ich mit ihm hatte, daß er hier Gelder
erhoben habe. Er muß also öfters ausgegangen sein.«
»So ist es während meiner Abwesenheit vom Hause geschehen, vielleicht auch hat sein Sekretär diese
geschäftlichen Dinge abgemacht.«
»Er hat einen Sekretär? Davon sprach er nicht. Er muß also ein wohlsituierter Herr sein.«
»Gewiß! Er zahlte gut und speiste auf das feinste. Sein Sekretär, Master Clinton, führte die Kasse.«
»Clinton! Ah, wenn dieser Sekretär Clinton heißt, so muß ich ihn im Klub getroffen haben. Er stammt aus
New York oder kommt wenigstens von dort und ist ein vorzüglicher Gesellschafter. Wir trafen uns
gestern zur Mittagszeit - -«
»Das stimmt,« fiel sie ein. »Da war er ausgegangen.«
»Und fanden, « fuhr ich fort, »ein solches Wohlgefallen aneinander, daß er mir seine Photographie
verehrte. Die meinige hatte ich nicht bei mir, mußte sie ihm aber bestimmt versprechen, da wir uns heute
wieder treffen wollen. Hier ist sie.« Und ich zeigte ihr Gibsons Bild, welches ich immer bei mir trug.
»Richtig, das ist der Sekretär,« sagte sie, als sie einen Blick darauf geworfen hatte. »Leider werden Sie
ihn nicht so bald wieder sehen, und von Master Ohlert werden Sie kein weiteres Gedicht erhalten können;
sie sind beide abgereist.«
Ich erschrak, faßte mich indessen schnell und sagte:
»Das tut mir sehr leid. Der Einfall, abzureisen, muß ihnen ganz plötzlich gekommen sein?«
»Allerdings. Es ist das eine sehr,