“Welcher Mensch wäre dazu in der Lage?”, fragte Leon mit lauter Stimme.
“Nun, es gibt da diese Magier in Vegas. Die können sowas, glaube ich”, war das Erste, das Lara in den Sinn kam. Langsam bekam sie ihre Fähigkeit, zu sprechen, zurück.
“Das Fenster zum Beispiel ist bestimmt nur ein Bildschirm und die Leute hier hast du vorher bezahlt und die Milch...verdammt wie hast du das mit der Milch gemacht”, floss es aus Lara heraus. Sie hatte den Auftritt eines Illusionisten nie live miterlebt und hatte keine Ahnung, wie weit deren Fähigkeiten wirklich reichten. Sie wusste im Moment einfach nicht, was sie glauben sollte.
“Ein Bildschirm, huh?”, meinte Leon und stand auf: “Öffne die Tür!”
Nun war Lara neugierig. Sie ging zur Eingangstür, öffnete sie und sah sich draußen um. Und tatsächlich war auch dort alles unbeweglich und stiller als ein Wintersee.
Sie schaute ganz genau, ob sie nicht doch etwas entdecken konnte, das Leons Trick auffliegen ließ. Irgendein winziges Detail. Aber da war rein gar nichts.
Leon schritt neben Lara und hob die Hand. Als ob das Einfrieren der Zeit nicht schon Wunder genug war, erhoben sich die Autos, die Menschen, ja sogar der Hund, als wären es lediglich Ballons. Leise und harmlos schwebten sie langsam gen Himmel.
“Scheiße”, sagte Lara und schaute zu Leon: “Du bist Gott.”
Kapitel 4 Ich kam mit Verantwortung ja noch nie gut zurecht
Lara konnte es immer noch nicht wirklich glauben. Wie könnte man so etwas Absurdes auch nicht mit aller Kraft anzweifeln. Wie könnte man nicht denken, jemand würde einen ganz kräftig verarschen. Aber was Lara gesehen hatte, hatte sie nun mal gesehen.
Vögel, die mitten in der Luft erstarrten und doch am Himmel blieben. Autos, die eigentlich niemand hätte heben können, die aber leichter als Luft schienen. Ein junger Mann, der für all das verantwortlich schien.
Gott war also kein alter Mann mit Bart, sondern ein Junge in Laras Alter.
Nein Quatsch, er ist doch nicht Gott.
Warum sollte Gott auch gemütlich einen Kaffee mit irgendeinem Mädchen aus einer Kleinstadt trinken? Gott hätte wichtigeres zu tun.
“Natürlich zweifelst du. Natürlich bist du verwirrt. Ich habe mich den Menschen ja bisher nicht gezeigt”, sagte Leon (oder Gott?): “Aber du wirst es schon einsehen.”
Lara setzte sich mitten auf die Straße; es fuhr ja eh gerade kein Auto.
“Nun, ich werde dir etwas Zeit lassen”, sagte Leon: “In einer halben Stunde komme ich zurück.”
Und plötzlich saß Lara nicht mehr auf der Straße, sondern stand wieder im Cafè, genau wo sie gewesen war bevor die Zeit auf einmal still stand. Sie schaute zu Leon. Aber da war kein Leon. Nicht an seinem Platz, und auch sonst nirgends in Sichtweite. Also doch nur ein Traum?
Aber man fängt doch nicht mitten in einem Cafè an, so realistisch zu träumen. Und wenn Leon gar nicht hier war, was suchte Lara dann überhaupt in diesem Cafè?
“Alles in Ordnung?”, sprach eine Bedienung Lara behutsam an: “Du bist ganz blass. Geht es dir nicht gut?”
“War jemand mit mir hier?”, fragte Lara als erstes.
“Nein. Du bist alleine gekommen”, sagte die Bedienung, besorgt um Laras Gesundheit: “Setz dich erstmal hin. Benni, bringst du mir schnell ein Wasser, bitte?”
Eine andere Bedienung kam eilig mit einem Glas Wasser zu den beiden.
“Was hat sie denn?”, fragte Benni, ebenso besorgt.
“Keine Ahnung”, sagte die erste Bedienung: “Sie ist auf einmal stehen geblieben und wurde blass. Sie scheint auch irgendwie verwirrt zu sein.”
“Dann sollten wir vielleicht einen Krankenwagen rufen, oder was meinst du, Beate?”, sprach Benni.
“Nein, mir geht es wieder besser”, sagte Lara schnell. Was wäre ihr das peinlich, wenn jetzt wegen ihr ein Krankenwagen kommen würde. Und wie sollte sie das erklären?
“Wahrscheinlich nur der Kreislauf”, fügte sie hinzu. Tatsächlich ließ ihr Schock langsam nach und sie spürte auch ihre Gesichtsfarbe zurückkehren (nicht ihre natürliche, sondern ein Knallrot). Aber umso länger sie da saß und umso öfter sie den Bedienungen vergewissern musste, dass alles in Ordnung war, desto mehr war sie sich sicher, dass sie sich nichts von alledem eingebildet hatte. Auch hielt sie es für immer unwahrscheinlicher, dass das Ganze irgendein Trick war. Leon war zwar nicht mehr da, aber schleichend wurde Lara bewusst, dass sie gerade dem leibhaftigen Gott begegnet war.
Jetzt bloß nicht wieder blass werden.
“Ich geh vielleicht lieber an die frische Luft”, sagte Lara und stand auf.
“Ich komm besser mit und pass auf dich auf”, meinte Beate.
“Oh nein, wirklich nicht nötig”, sagte Lara: “Wie gesagt, mir geht es schon besser. Außerdem kommt gleich eh ein Kumpel und holt mich ab.”
Lara saß im Park in der Nähe des Cafès und fragte sich, was jetzt passieren würde. Sie hatte es nach einem Dutzend Versuche endlich geschafft, den Bedienungen weiß zu machen, dass sie keine weitere Hilfe benötigte. Sie hatte sich höflich bedankt und hatte das Cafè verlassen. Auf dem Weg zum Park wäre sie, auf der einzigen Straße, die sie überqueren musste, fast angefahren worden. Zum Glück hatte niemand aus dem Cafè das mitbekommen, sonst hätte Beate sie wohl bis an ihr Lebensende nicht mehr aus den Augen gelassen.
Wie kann man nur gleichzeitig so viele Fragen im Kopf haben, dachte Lara über sich selbst und wusste gar nicht, welche dieser Fragen sie Gott zuerst stellen sollte.
Vielleicht ist es auch total unhöflich, Gott irgendwas zu fragen. Wieso gibt es keine Knigge-Lektion für eine Begegnung mit Gott?
Plötzlich wehte ein kurzer, heftiger Wind im Park (oder vielmehr nur um die Bank, auf der Lara saß) und ein lächelnder Leon saß neben Lara.
Die Blicke der beiden trafen sich.
“Wo zur Hölle warst du?”, fragte Lara aufgebracht und Gott schaute sie verwundert an: “Wo warst du, huh? Die letzten tausend Jahre, als so viele Menschen gelitten haben. Warum zum Teufel hast du nichts getan? Warum hast du nur zugeschaut? Wo warst du die letzten Jahre, als ich so…”
Eine Träne rollte über Laras Wange. Gott seufzte tief.
“Ich glaube, du schätzt meine Kraft falsch ein”, meinte Gott mit sanfter Stimme: “Und ich glaube, du verstehst nicht ganz, wozu ich diese Welt erschuf.”
“Du bist Gott, deine Macht ist unbegrenzt”, meinte Lara wütend.
“Das denkt ihr Menschen also von mir”, sprach Gott: “Meine Kraft litt in Wahrheit stark unter dem Erschaffen dieser Welt. Selbst dich zu überzeugen, dass ich Gott bin, hat bei mir Spuren hinterlassen. Und überhaupt: Ich hatte nie vor, in das Schicksal der Menschen einzugreifen. Ich hatte ja nicht einmal geplant, Menschen zu erschaffen. Ich erschuf die Welt und die physikalischen Gesetze, und somit die Chance auf Leben. Das ist alles. Der Rest ist tatsächlich purer Zufall, musst du wissen. Ein äußerst seltsamer aber irgendwie auch interessanter Zufall, nebenbei gesagt.”
Lara hatte nie an Gott geglaubt, trotzdem wurde ihr Bild von ihm gerade ziemlich zerkaut wie ein Kaugummi.
“Man, ich wusste doch, der Papst lügt”, sagte sie und wischte sich die letzten Tränen weg: “Bist du denn jetzt zumindest hier, um den Menschen zu helfen?”
“Ich bin hier, weil ich eine Entscheidung zu treffen habe”, erklärte Gott: “Eine, die dir vielleicht nicht gefallen wird.”
“Was für eine Entscheidung?”, fragte Lara neugierig.