Ich hätte es wissen müssen, warum fragte er überhaupt, wenn er eh schon alles im Voraus wusste. Aber ich versprach ihm meine Kooperation. „Ich denke dies war ein langer Prozess, der durch viele Enttäuschungen im Umgang mit anderen Menschen, vor allem in Krisensituationen, resultierte.“
„Sie sprechen da den Tod Ihrer Mutter an?“
„Nicht nur, aber dies war gewissermaßen das Ereignis, das vermutlich ausschlaggebend war.“
„Und das Verhalten Ihres Vaters in der Folgezeit?“
„Dies hat die Einschätzung weiter verfestigt.“ Woher wusste er das nur alles?
„Weshalb verachten Sie Ihre Mitmenschen?“
„Weil sie sich für die Krone der Schöpfung halten und täglich ihre ganze Umwelt ausbeuten und systematisch an deren Vernichtung arbeiten. Sie verursachen unendlich viel Leid sowohl in der eigenen Spezies als auch gegenüber ihren Mitgeschöpfen. Dies ist kein Verhalten, das man von einem vernunftbegabten Geschöpf erwartet. Darüber hinaus sind die Menschen noch ignorant und wollen nicht auf irgendwelche Fehler aufmerksam gemacht werden. Und wenn, dann sind sie zu bequem, um etwas zu ändern. Der Mensch ist so von sich überzeugt und eingenommen, dass er nicht sieht, dass sein Verhalten nicht nur seinen Untergang, sondern auch den Untergang des Planeten bedeutet.“
„Ist dies der Grund, warum Sie sich vegan ernähren?“
„Ich lebe vegan, weil ich dieses Leid, das der Mensch für ein paar Annehmlichkeiten billigend in Kauf nimmt, in der Form nicht länger mittragen will. Kein Ei, Milchprodukt oder Honig kann mir so gut schmecken, dass ich mich hierfür an dem ganzen Unrecht gegenüber anderen fühlenden Wesen beteilige. Außerdem ist die vegane Lebensweise eine Form des Widerstandes gegen ein Großteil des menschlichen Selbstverständnisses.“
„Somit ist Ihr Veganismus auch misanthrop geprägt?“
„Ja unbedingt.“
„Wenn es nur um die Tiere ging, dann wäre doch auch einfach eine vegetarische Lebensweise denkbar.“
„Nein, da man Fleischkonsum nicht unabhängig von Milch- und Ei-Wirtschaft betrachten kann. Ein Verzicht auf Fleisch verringert das Leid kein bisschen, es verlagert dieses nur, da man seinen Fleischverzicht meist mit einem Mehrkonsum an Milchprodukten, vor allem an Käse, kompensiert. Die meisten Menschen machen sich nicht einmal bewusst, unter was für Bedingungen die Tiere gehalten werden, ihnen geht es nur darum, dass sich die Preise dafür nicht erhöhen.“
„Dann müssten Sie doch eigentlich die Produktion von Bio-Produkten und artgerechte Tierhaltung befürworten?“
„Meiner Ansicht nach verringern die Bio-Höfe nur den Grad der Ausbeutung, die Ausbeutung an sich bleibt bestehen. Und wie kann sich der Mensch anmaßen, was denn artgerecht ist, wenn er nicht mal mit seiner eigenen Art gerecht umgehen kann?“
„Was würden Sie tun, um diese Situation zu verbessern?“
„Sämtliche landwirtschaftliche Subventionen abschaffen und den Milchpreis auf drei Euro herauf setzen. Das Gleiche, was beim Benzinpreis gilt, gilt auch hier in verschärfter Form. Außerdem würde ich keine Nachzüchtungen mehr zulassen.“
„Wo finge dann bei Ihnen wirksamer Umweltschutz an?“
„Bei einer nachhaltigen Reduzierung der menschlichen Spezies.“
„Und die würde wie aussehen?“
„Ein Fortpflanzungsverbot für alle Menschen, unterstützt durch Sterilisationsprogramme.“
„Würden Sie dabei den Anfang machen, würden Sie sich selbst sterilisieren lassen?“
„Das habe ich bereits, meine Vasektomie liegt ein halbes Jahr zurück.“
„Wenn Sie einen solchen Hass auf die Menschheit empfinden, müssten sie sich dann nicht auch selbst hassen?“
„Nun, das tue ich, denn mittlerweile habe ich sehr große Anforderungen an meine Mitmenschen, die so gut wie nie erfüllt werden. Die gleichen Anforderungen lege ich auch an mich an und auch ich kann sie nicht immer erfüllen. Mein Leben ist genau so viel wert wie das eines jeden anderen Menschen auch, nämlich gar nichts.“
„Nun, das ist sehr interessant, ich freue mich schon auf unser Gespräch heute Nachmittag.“
Ich stutzte. „Sie fragen mich hier über Dinge aus, die Sie vermutlich ohnehin schon wissen und ich weiß bisher immer noch nicht, was sie mir eigentlich sagen wollen.“
„Es ist nicht ganz richtig, dass ich das alles schon wusste. Einiges war mir bekannt, aber nicht im Detail, anderes war mir auch neu. Und ich sagte Ihnen doch, dass wir erst ein paar Dinge über Sie erfahren wollen und in einem zweiten Schritt werden wir Ihnen alles offenbaren, was wir wissen. So war die Abmachung, die wir gestern getroffen haben.“
„Nun gut“, fügte ich mich.
Wir verabschiedeten uns und als ich den Raum verließ, wartete Nicole schon auf mich.
„Wollen wir?“, fragte sie und hakte sich bei mir ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
Das Mittagessen war vorzüglich und bei dem anschließenden Spaziergang durch den Park, der vom Parkplatz aus wirklich nicht zu sehen war, erfuhr ich einiges über die Geschichte von Nuda Veritas.
Die Stiftung wurde in den 50er Jahren von einem Industriellen namens Erich Hofer gegründet. Seine Ehe war kinderlos geblieben und nach dem frühen Tod seiner Frau zog er sich später 60-jährig aus dem Geschäftsleben zurück, verkaufte seinen sämtlichen Besitz bis auf eben das Firmengelände und gründete die Stiftung mit dem bezeichnenden Namen. Im Laufe der Jahre hatte die Stiftung ein beträchtliches Vermögen angesammelt, so dass das große Fabrikgebäude umgebaut werden konnte. Davor war sie in dem wesentlich unscheinbareren Backsteinhaus gegenüber untergebracht gewesen. Auch der Park wurde erst Mitte der 60er Jahre angelegt und seitdem ständig ausgebaut. Obwohl die Stiftung weltweit Mitarbeiter beschäftigte, gab es keine zweite Niederlassung. Hier liefen also alle Fäden zusammen. Dafür fand ich es überraschend ruhig. Nach dem Stiftungszweck gefragt, antwortete Nicole nur ausweichend. Sie habe sich die Erforschung des Metaphysischen auf die Fahne geschrieben. Irgendwie sah sich niemand im Stande, mir auch nur eine einigermaßen plausible Erklärung zu geben, um was es hier ging und was ich hier sollte. Sie merkte mir meine Unzufriedenheit wohl an, blieb stehen und sagte mir: „Gedulden Sie sich noch ein bisschen. Bald schon werden Sie mehr wissen und dann werden Sie unsere Vorsicht verstehen.“
Vorsicht? Warum mussten sie hier vorsichtig sein? Es gab etliche Stiftungen, Vereine und Institutionen, die sich mit eben solchen Dingen beschäftigten. Die größte, die mir einfiel, war die Anthroposophische Gesellschaft, aber auch die Freimaurer und Rosenkreuzer machten nicht so ein Aufhebens um ihre Arbeit. Entweder war hier etwas gehörig faul oder das Ganze war eine einzige Schmierenkomödie. Der dritte Grund fiel mir zum damaligen Zeitpunkt noch nicht einmal im Traum ein.
Der Nachmittag verlief nicht wesentlich anders als der Vormittag. Lichterbrache fragte hauptsächlich und ich gab ihm meine Antworten, mehr oder weniger detailliert. Ich habe es längst aufgegeben zu fragen, was denn dahinter steckte. Diesmal war mein Vater das Thema.
„Wie würden Sie das Verhältnis zu Ihrem Vater beschreiben?“
„Abgekühlt, ich habe seit 3 Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt.“
„Möchten Sie den Kontakt wieder aufleben lassen?“
„Also von meiner Seite besteht da keine Veranlassung.“
„Wie würden Sie Ihre Gefühle ihn betreffend beschreiben?“
„Ich glaube Hass und Verachtung trifft es am besten. Obwohl er mir die meiste Zeit über gleichgültig ist, aber positive Gefühle hege ich keine für ihn.“
„Haben