Der Herr des Krieges Teil 4. Peter Urban. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Urban
Издательство: Bookwire
Серия: Warlord
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788757
Скачать книгу
die Zange von links zu schließen plante. Natürlich hatte Soult in Jourdans Aufzeichnungen herumgestöbert. Sein unglückseliger Vorgänger hatte Bedenken gehabt: Die Straßen über die Pässe waren sehr schlecht. Nur das Teilstück Bayonne–Saint-Jean-Pied-de-Port hatte einen echten, militärischen Nutzen. Es war möglich, auf der anderen Seite des Gebirgszuges, in schwierigstem Gelände, überraschend in das Gros der Alliierten hineinzulaufen, falls Wellington seine Truppen heimlich konzentrierte, um die Belagerung von Pamplona zu sichern. Navarra war ein partisanenverseuchtes, unwirtliches und hungriges Stück spanischer Erde, in dem die Adler sich kaum würden ernähren können, selbst wenn sie jeden einzelnen Einsiedlerhof zwischen Irun und der Ebene vor Pamplona plünderten. Jourdan hatte immer solche Bedenken gehabt! Ihm fehlte eben das strategische Genie, das Napoleon seinem treuen Soult huldvoll zugesprochen hatte, als er seinem Kaiser den Tag von Austerlitz gerettet hatte! Jourdan war immer schon ein engstirniger, kleiner Revolutionsgeneral gewesen! In seiner Jugend war er sogar dem Träumer La Fayette in die amerikanische Wildnis gefolgt, nur um ein paar halbzivilisierte, ehemalige Sträflinge und Verbrecher in die Freiheit zu führen. Wer war schon Jourdan? Der Mann war nicht einmal klug genug gewesen, sich an den reichen iberischen Pfründen zu bedienen und etwas für seine Familie zu tun. Sollte er heute nur in seinem ärmlichen Landsitz bei Graçay sitzen und sich die Haare ausreißen, weil er nicht wußte, wie er die Mäuler seiner 14 hungrigen Revolutionärskinder gestopft bekam!

      Natürlich begriff Nicolas Jean-de-Dieu, wie gewagt seine Strategie für den Sommer 1813 war: Jeder, der sein Kriegshandwerk ordentlich gelernt hatte, wußte aus den Erfahrungen der Geschichte, daß es riskant war, zwei Kolonnen von zwei unterschiedlichen Orten, über zwei unterschiedliche Routen loszuschicken und darauf zu spekulieren, daß sie sich pünktlich am vereinbarten Ort wiederfanden, um sich gemeinsam mit einem Gegner zu schlagen. Meist wurde das eine Korps, getrennt vom anderen aufgerieben, weil die Verstärkung durch die Unwägbarkeiten des Krieges Verspätung hatte. Dann konnte der Nachzügler meist nur noch auf einem von Toten und Sterbenden übersäten Feld konstatieren, daß man hoch gespielt – und verloren hatte! Doch Friedrich, der Preußen großer Feldherr, hatte es bei Königgrätz getan, und Napoleon war es 1806 bei Jena und Auerstedt gelungen. Selbst der verdammte Sepoy-General brachte solche Kunststücke fertig. Jourdan und Joseph waren bei Vitoria daran gescheitert! Soult wußte um sein organisatorisches Talent. Immer gelang es ihm, alle Adler pünktlich dort aufmarschieren zu lassen, wo sein Kaiser sie haben wollte. Was waren schon diese Pyrenäen für den besten Strategen des französischen Reiches?

      Soults großer Plan hatte überwältigende Vorteile: Mit etwas Glück würde er den Hauptteil seiner gesamten Spanienarmee an seiner äußersten, linken Flanke konzentrieren können, noch bevor Lord Wellington ein entsprechendes Gegenmanöver vollzog. Bei Roncesvalles standen so lächerlich wenig Leoparden in der Landschaft herum, daß er durch die rechte Flanke des Iren schneiden konnte, wie ein heißes Messer durch ein Stück normannischer Butter: Der bewährte Clausel würde den Frontalangriff führen, Reille vier Meilen weiter östlich über einen Maultierpfad bis zum Lindus-Plateau hinauf in die Pyrenäen ziehen und dann dem Sepoy-General die Überraschung seines Lebens besorgen. Der Herzog von Dalmatien hörte Napoleon schon bewundernd ausrufen: „Soult, du bist der beste Stratege in meinem ganzen Reich!“ Wie in den guten alten Tagen, als Frankreichs Stern noch hell über ganz Europa leuchtete! Wie in den guten alten Tagen, als er seinem Kaiser den Tag von Austerlitz gerettet hatte!

      Während Marschall Soult dazu ansetzte, die große, französische Sommeroffensive gegen Spanien zu starten, durchlitt sein irischer Gegner Augenblicke schlimmster Ungewissheit, denn sein Nachrichtendienst funktionierte so vorzüglich, daß ihm auf der anderen Seite des Bidassoa, im Feindesland, so gut wie nichts verborgen blieb: Pater Jack Robertson und sein Quartett, Späher der Guerilleros, Späher der britischen Regimenter, Sir James Dullmores Informantenheer im französischen Teil des Baskenlandes, sie alle warfen ihn mit großen und kleinen Nachrichten jeder Art zu. Damit verfügte er einerseits über zuviel Information, doch andererseits hatte er noch zu wenige Details über die wirkliche Stoßrichtung der Adler, um schon handeln zu können. Man hatte ihm minutiös jedes einzelne Detail von Soults Reorganisation der zertrümmerten Armeen König Josephs zugetragen. Selbst die genaue Anzahl und die Kaliber der Ersatz-Artillerie, die die neue Spanienarmee aus Bayonne bekommen hatte, lagen auf seinem Arbeitstisch. Jose Etchegaray war in der letzten Nacht erschöpft und schmutzig in sein Turmzimmer in Lesaca gestürzt, um ihm zu erklären, daß die Adler bei Urrune zwei vollständige Pontonbrücken liegen hatten, die lang genug waren, um den Bidassoa an der breitesten Stelle zu überspannen. Oberst Grant und Jack Robertson waren verkleidet und verwegen nach Frankreich geschlichen, um Adler zu zählen. Seit den Morgenstunden dieses Tages wußte Arthur auch um die Ordre de Bataille und um die größte Truppenkonzentration vor Saint-Jean-Pied-de-Port.

      Daneben schrieb ihm General O’Donell täglich aus Pamplona. Es waren weniger Depeschen, als Klagebriefe: Die eingekesselten Franzosen hatten bereits alle Ratten gefangen, gebraten und aufgegessen. Doch sie wollten einfach nicht die weiße Fahne hissen! Sie machten sich nun offensichtlich daran, ihre leeren Mägen mit den Mäusen und Spatzen zu füllen, die Pamplona noch reichlich bevölkerten.

      Aus San Sebastian benötigte Arthur keine Depeschen: Er hatte zwei Ohren und die genügten ihm! Ohne große Mühen konnte er jeden einzelnen Kanonenschuß mitzählen, den General Graham im Verlauf eines langen Tages in hilfloser Wut gegen die mächtigen dreifachen Wälle feuerte. Die Truppenkonzentration des Gegners deutete auf einen Schlag gegen San Sebastian hin. Die Pontons bei Urrune schienen dies zu bestätigen und die verdammte belagerte Festung wollte und wollte nicht fallen, genausowenig wie die zweite, verdammte Grenzfestung einfach nicht verhungern wollte. Seit dem Tag, an dem Arthur erfahren hatte, daß Jourdan und Joseph von Soult abgelöst worden waren, bereitete er sich in seinem Inneren auf eine große, feindliche Sommeroffensive in kürzester Zeit vor. Er hatte von Anfang an gespürt, daß ihm für San Sebastian maximal zwei Wochen gegeben waren, denn Soult war ein großartiger Organisator. Er vermochte in vierzehn Tagen, aus jedem demoralisierten, dahinsiechenden Kadaver wieder ein Feldheer zu formen. Er war auch ein glänzender Redner, der den Entmutigten wieder Kraft einflößen konnte und Kampfgeist und revolutionären Eifer ...

      Arthur war ein erbärmlicher Redner! Was Ansprachen vor dem Feldheer anging – er verstand sich darauf noch weniger als auf Belagerungen, und für gewöhnlich ersparte er sich und seinen Leoparden alles, was über ein paar kurze Befehle hinausging: Gloire! Victoire! Allons Enfants de la Patrie ...! Wenn man sich vor 60.000 Mann stellte, um ihnen irgendwas von König, Vaterland und Englands Ruhm zu erzählen, dann hörten einen sowieso nur maximal die 200 Leoparden, die einen in ihrer Aufregung und in ihrem Überschwang fast vom Pferd stießen! Wenn er Schach spielte, hielt er den Mund und dachte nach. Arthur spielte leidenschaftlich gerne Schach, wenn er Zeit hatte und einen interessanten Gegner! Soult war ein solcher und er hatte alle Zeit der Welt und ein riesiges Schachbrett. Es war fast eintausend Quadratmeilen groß, an der längsten Seite erstreckte es sich über 40 Meilen, zwischen Irun und der Straße nach Pamplona. Er hatte 60.000 Schachfiguren aufgestellt und alle möglichen Züge durchdacht. Er wußte, daß seine roten Bauern, Springer und Türme ihn gegen jeden möglichen Zug der blauen Figuren wappneten. Er konnte Soult jederzeit einen sauberen Schuß vor den Bug versetzen und ihn höflich, aber bestimmt darum bitten, wieder über die Grenze nach Spanien zu verschwinden. Er hatte ein untrügliches Auge für die Topographie. Er verfügte über gute Karten der Berge und Navarras. Doch mehr noch als alles Papier der Welt half ihm sein Aussichtsturm in der Mitte der Frontlinie und seine langen, einsamen Ritte zwischen der Küste und den verschiedenen, alliierten Stellungen im Landesinneren. Sein Dilemma war in diesem Augenblick nicht das Wie gegen die Adler, sondern das Wo. Er mußte entscheiden, wo er seine Korps konzentrierte oder zumindest einen Schulterschluß über einen großen Frontabschnitt vollziehen. Ansonsten konnte man seine Flanken aufrollen, ihn umgehen und den Leoparden in den Rücken fallen. Doch für diese Entscheidung brauchte er Soult! Der Herzog von Dalmatien spielte Weiß. Er mußte, nach den Regeln des Schachspiels den Eröffnungszug tun.

      Sein menschliches Torres Vedras, das sich in einer irregulären und filigranen Linie zwischen Irun und dem Paß von Roncesvalles erstreckte, war in jeder Hinsicht eine ideale Lösung, um den Franzosen Einhalt zu gebieten. Es war Unsinn, irgendwelche bestimmten Abschnitte halten oder befestigen zu wollen.