Grover machte große Augen, doch er grinste. »Ich kenn außer dir niemanden, der es immer wieder schafft, sich in solche Schwierigkeiten zu bringen«, sagte er und lachte leise. »Aber mach dir keine Sorgen. Bei mir ist dein Geheimnis gut aufgehoben.« Er deutete auf die Tür des Abteils der Gräfin. »Diese Zicke ist ein entsetzlich verwöhntes Balg. König Louis...« Grover verzog das Gesicht. »...hat strengste Anweisung erlassen, dass wir jeden ihrer Schritte bewachen. Vor allem sollen wir darauf achten, dass sie sich schicklich aufführt und nicht mit Kuhhirten und Zeitungsschmierern fraternisiert«.
»Ach, wirklich?« Roger schaute Grover überrascht an. »Auf mich macht sie eigentlich nicht den Eindruck, als hätte sie Lust, sich mit Bürgerlichen abzugeben.«
Grover grinste erneut. »Dort, wo sie herkommt, hat sie alles andere als einen guten Ruf. König Louis ist wegen seines Umgangs mit ihr heftiger Kritik ausgesetzt.«
»Aus welchem Land kommt sie?«, fragte Roger interessiert.
»Bavaria«, sagte Grover.
»Kenn ich nicht.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Grover, »aber mein Freund Schnauz ist dort geboren. Wenn er nicht weiter weiß, sagt er immer Jo, mei. Ich würd gern wissen, was es bedeutet, aber er sagt’s mir nicht.« Er deutete auf seinen Zeitung lesenden Kollegen, der frappierend einem Walross glich. Schnauz schaute kurz auf und streckte Grover die Zunge heraus.
»Ich hau mich jetzt was aufs Ohr«, sagte Roger und klopfte Grover noch mal auf die Schulter. »Ich hab seit Gott weiß wann kein Auge mehr zugemacht...«
»Na, dann Gute Nacht.«
»Pfüat di«, sagte Schnauz.
»Ja«, erwiderte Roger im Weggehen. »Du mich auch.«
6.
Trotz seiner Müdigkeit konnte Roger nicht einschlafen. Als er die Reisetasche auspackte und seine Sachen in den schmalen Schrank legte, fiel ihm Homers Notizbuch wieder in die Hände.
Er blätterte es durch und stieß auf zahlreiche Eintragungen, die sich mit der Gräfin beschäftigten. Allem Anschein nach hatte Homer seine Hausaufgaben ordentlich gemacht. Das, was er zusammengetragen hatte, war ein fast lückenloser Lebenslauf der berühmten Tänzerin.
Wenn seine Notizen stimmten, war die Gräfin Landsfeld 1822 unter dem Namen Eliza Marie Gilbert als Tochter eines Offiziers und einer Kreolin in dem schottischen Städtchen Montrose zur Welt gekommen. Ihrer Mutter sagte man große »Liederlichkeit« nach, denn sie hatte ihren Gatten mit einem Offizier namens James betrogen, sich scheiden lassen, James geehelicht und dann mit ansehen müssen, wie ihre Tochter ihr den neuen Gatten ausgespannt hatte.
Eliza und James waren nach Frankreich gegangen, hatten dort Bigamie betrieben und Elizas Mutter später mit Geld abgefunden. Dann war Mr. James mit seiner jungen Frau nach Indien gegangen, wo Eliza nicht nur allen Männern den Kopf verdreht, sondern nun ihrerseits Ehebruch mit dem bis dato unbescholtenen Lord Auckland, dem Generalgouverneur von Indien, begangen hatte, der daraufhin geschasst und von der Königin nach England zurückbeordert worden war. Elizas Gatte war danach dem Trunk verfallen und hatte eine Inderin aus einer angesehenen Familie entführt.
In Indien hatte Eliza sich eine Weile in finsteren Kreisen herumgetrieben, die Gunst eines Gewürzhändlers ausgenutzt, um ihn um 1000 Pfund in Gold zu erleichtern und war nach England zurückgekehrt, um dort als Tänzerin ihr Glück zu machen. Ein spanischer Tanzlehrer hatte sie ausgebildet und ihr zu spanischen Sprachkenntnissen verholfen. Bald darauf war sie unter dem Namen »Maria Dolores de Porris y Montez« aufgetreten. Sie hatte sich eine Abstammung aus der Linie eines gewissen Don Juan d’Austria erdichtet, eines Halbbruders des Königs von Spanien.
In Paris hatte sie den ihr sexuell hörigen Grafen Poincaré in den Selbstmord getrieben. In Brüssel hatte sie einen Monsieur Beulemans schwer verletzt, indem sie ihr Pferd hochriss, so dass dieser von dessen Hufen getroffen wurde – denn Monsieur Beulemans hatte sich die Frechheit herausgenommen, schlecht über sie zu reden. In Holland hatte ihr Geliebter Marquis de Villiers einen Mann ermordet, weil er in ihm einen Nebenbuhler zu erblicken glaubte.
In Russland war Graf Porwanski spurlos verschwunden, nachdem er angeblich in eine Orgie hineingeplatzt war, an der seine Geliebte Lola und fünf Herren teilnahmen. In Polen hatte ihr der Vizekönig Prinz Paskiewicz nachgestellt, dessen Liebeswerben sie jedoch ausgeschlagen hatte, weil er sechzig Jahre alt gewesen war.
Momentan sagte man ihr ein heftiges Techtelmechtel mit dem verheirateten deutschen König Ludwig nach, der sie, damit er standesgemäß mit ihr umgehen konnte, sogar in den Adelsstand erhoben hatte.
All dies war starker Tobak, fand Roger – aber auch ein gutes Mittel zum Einschlafen, denn er hatte noch nie verstanden, wieso ein Mann, der viele Frauen hatte, als Teufelskerl, und eine Frau, die viele Männer hatte, als Hure galt.
Am nächsten Morgen war der Himmel bedeckt, und es sah nach weiterem Regen aus. Als Roger fertig war, gehorchte er dem Knurren seines Magens und folgte dem Geruch frisch aufgebrühten Kaffees.
Im Salon des Salonwagens, der wie ein Wohnzimmer eingerichtet war, nahm er an einem gedeckten Tisch Platz. Kurz darauf rauschten die Gräfin und Roxanne herein und leisteten ihm Gesellschaft. Roger tafelte zum ersten Mal seit Tagen fürstlich und versuchte die Gräfin und ihre Gesellschafterin mit Bonmots zum Lachen zu bringen. Bei Roxanne hatte er teilweise Erfolg, doch Gräfin Landfeld betrachtete ihn nur aus kleinen Augenschlitzen, als frage sie sich, welchen Proleten man an ihre Seite gesetzt hatte.
Roger kramte im Schatzkästlein seiner Erinnerungen und erzählte drollige Geschichten aus dem Journalismus, die er von Homer kannte und über die er herzlich hatte lachen müssen. Doch dass die Gräfin für die amerikanische Presse, die in ihren Augen nur Krawall- und Revolverblätter unterhielt, nur Spott übrig hatte, zeigte sich bald.
Roger schlug seinem Frühstücksei frustriert den Schädel ein und bemühte sich, Charme zu versprühen, der nichts mit seinem angeblichen Beruf zu tun hatte. Doch vergebens. Die Gräfin gähnte, und ihm wurde immer klarer, dass sie wirklich eine hochnäsige Zicke war.
Als schließlich gar nichts mehr lief, griff er in seiner Verzweiflung zu der alten Masche, die er nur anwendete, wenn er jemandem Aktien andrehen wollte: Er lobte ihr tänzerisches Können, bewunderte ihren adeligen Umgang und versuchte sich bei ihr einzuschleimen, indem er vorgab, ein großer Bewunderer der europäischen Lebensart zu sein.
»Dass ein typischer Amerikaner wie Sie sich nach so etwas sehnen kann«, sagte die Gräfin, »ist mir völlig unverständlich. Sie sind laut, aufgeblasen und gehen mit der Zutraulichkeit eines Welpen auf andere Menschen zu.«
Roger schluckte. Was war falsch daran, seinen Mitmenschen offen entgegenzutreten?
»Auch wenn mein Freund, der König, mit Ihrem Verleger auf gutem Fuß steht«, fuhr die Gräfin fort. »Ich verabscheue die Kultur, die Sie vertreten. Genau genommen ist es überhaupt keine.«
Das war deutlich. Sie hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er gesellschaftlich meilenweit unter ihr stand.
Als sie aufstand, um in ihr Abteil zurückzukehren, atmete Roger auf. Zu seiner Überraschung entdeckte er im Gesicht Roxannes Sympathie für ihn. Als die Gräfin zur Tür hinausging, tippte sie sich an die Stirn, als wolle sie sagen, dass ihre Herrin einen Vogel hatte.
Als die Frauen gegangen waren, sagte er »Puh« und trat in den Gang hinaus, um sich zu Grover und den Pinkertons zu gesellen. Diesmal schlief Schnauz. Der dritte Mann war offenbar zum Frühstück in den Speisewagen gegangen. Der Zug ratterte am Platte River vorbei, und einmal sah Roger sogar eine kleine Bisonherde.
»Du siehst aus, als hätte dich ein Pferd getreten«, sagte Grover.
»Ich hatte gerade das Vergnügen, mit der Gräfin zu frühstücken.«
»Verstehe.« Grovers Miene