Die freien Geisteskranken. Jasper Mendelsohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jasper Mendelsohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776693
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um einundzwanzig Uhr.« Die Malik-Männer klopften sich auf die Schultern, gaben den Journalisten noch kurze Interviews und gingen ihrer Wege. Die Staatsanwälte standen zur gleichen Zeit in einem leeren Saal. »Aber Euer Ehren«, riefen sie ihre Majestät zur Rechtsprechung auf, »das waren Kommunisten!« Der werte Richter hob das Kinn und sprach ihnen von seinem Rang herunter. »Und sie waren jung«, fügte er hinzu. »Wer seine Jugend nicht nutzt, um gegen Mauern zu laufen, kann sein Alter nicht nutzen, um mit besserem Wissen Türen zu zimmern. Beim nächsten Mal, meine Herren Staatsanwaltschaft, beim nächsten Mal soll es das letzte Mal gewesen sein. Ich wünsche einen guten Tag.« Er erhob sich und verließ den Saal durch die Hintertür. Mit Dummen zu diskutieren ist wie mit einem Hunde Schach zu spielen. Er versteht nie worum es geht, nimmt die Figuren in den Mund und kötert aufs Brett. »Beispiellos«, stoßseufzte der eine Advokat und knüllte die Zeichnungen wütend in seinen Aktenkoffer zurück. »Juden!«, knurrte der andere. Semitisches Verschwörervolk, so rumorte es unter seiner Stirn: Sie treiben hart arbeitende Familien mit ihren Wucherzinsen in den Bankrott, dann zwingen sie die jüngsten und hübschesten Töchter in die Prostitution um ihren unstillbaren, sexuellen Appetit in ihnen abzureagieren, und jetzt? Jetzt grinsen sie einem ihre Goldkiefer auch noch mitten ins Gesicht und malen Bilder und gründen Verlage und machen Presse. Und ewig lügt die Presse. Doch allein unser Schicksal stopft ihnen die Bäuche nicht, die Backen werden nicht voll, Die Weltherrschaft muss es wohl auch noch sein. Aufgeregt kippelte er mit seinem Stuhl ein Stück zu weit nach hinten, so dass er umfiel und sich das Steißbein an der Lehne brach. Unwürdig musste er fortan durch die Straßen hinken. Jeder sah, wenn er ging, dass er an einem peinlichen Malheur vom Steiß ab aufwärts litt. Nie würde er diesen Schmerz je vergessen. Den seelischen wie den physischen. Nie. Auf jeden humpelnden Schritt würden sie ihn verfolgen. Doch bald – bald würde zurückgeschossen. Auf bald, wenn es Justizia wieder offiziell macht. Alle an die Wand stellen und abdrücken. Triffste immern Richtigen.

      X

       Retrospektive: 1916.

      Seelenarzt Kajetan Kinkel, Prinzipal der Salpeterbergklinik nahe Görden, kramte in seinem langen, weißen Kittel und holte seinen Spatel hervor. Neben allgemeiner Gedankenschwindsucht und Chimären, behandelte er auch Zerwürfnis und Weltschmerz sowie Hysterie und Masturbation. Die Kuckucksuhr zwitscherte zur Stippvisite, pünktlich um den Psychopathen in den Rachen zu sehen. Abgründe konnten sich dort auftun. Er schob den Patienten den Spatel in die Kehlen, mit einem Pfriem in der anderen Hand stach er die Unterseiten der Zungen an um die Reaktionsfähigkeiten zu bestätigen. Auf einer seiner Listen setzte er Häkchen unter der pejorativen oder der mejorativen Geistesgenese, je nach Oszillationsrichtung der jeweiligen Rekrudeszenz. Er leuchtete mit einer Kerze in die Augen und maß die Kontraktionsprofile der Pupillen, während die Hornhäute anbrutzelten. Nur Schmerzinvasive schrien, die Paralysierten hingegen nahmen alles hin. Häkchen bei Schmerzinvasiv, Kreuz bei Paralyse. Tonnenvoll Abfall von Traumata, junge Verwirrte und alte Verrückte, vollgefressen mit schwerer Kost. Der Krieg in ihnen lief ihnen die Hälse herauf, man konnte ihr inneres Auf- und Durchdrehen riechen. Die Pfütze des Geistes lag hier vor ihm, er watete hindurch, als er an den Bettreihen vorbeiging und sich seine Patienten suchte, den Spatel hier und da einschob, mit Stecknadeln zupiekste und mit Streichhölzern zündelte. Jeder seiner Leidgeprägten hatte seine eigenen Ticks und Knicke. Einer summte wie eine Biene, einer raschelte nachts wie die Blätter im Wind und einer bepisste sich wie der Morgentau eines diagnoseversprechenden Vormittages. Es war der zweite Frühling des Krieges. Aus einer Appetit-Panik war ein Aha-Erlebnis geworden. Und ihre Opfer, die noch lebten, kamen an diesen Ort der isolierten Ruhe und des Experiments. Die Nervenheilanstalt. Die Klapse. Das Andersartig-sein-Gefängnis. Die Reparaturwerkstatt der Nicht-Metalle. Die Krankheitsbilder, welche die Soldaten aufwiesen, waren noch weithin unbekannt. Es waren neue Symptome aus neuen Ursachen. Philosophen arbeiteten sich daran ab, ob politische Umstände virale Folgen auf das Bewusstseins-Erleben haben könnten und schrieben Essays. Ärzte beratschlagten sich zu einem epidemischen Befall von Verblödung und epileptischer Neurasthenie, diagnostizierten Hysterie-Patienten, schrieben Bücher. Grosz sah den besenstielartig geformten, knochigen Arzt mit seinem Spatel in der einen, den Pfriem in der anderen Hand auf ihn zukommen.

      »Mund auf«, befahl Kinkel.

      Und ehe er noch guten Morgen sagen konnte hatte er den Spatel im Rachen. Kinkel leuchtete die Gebissreihen ab, schnupperte nach etwas in der Luft, stach zu, schmeckte das Blut ab und klappte den Patientenbeißapparat wieder zu.

      »Mitkommen.« Preußische Ordnung mit Wiener Akzent. Die zwei Arzthelfer mit der Aura von Zwillingen packten Grosz unter den Armen und hoben ihn aus seinem Bettgestell. Ein alter Verrückter Kauz wippte auf seinem Bett vor sich her. »Ruhe geben«, sagte er. »Warum könnt ihr keine Ruhe geben? Das ist alles was ihr müsst.«

      »Halt‘s Maul!«, schrie ihn ein Zwilling an.

      »Kalt Blut, Günther«, kanzelte ihn Kinkel zur Räson.

      Sie kamen ins Arbeitszimmer des Prinzipals. Grosz wurde angewiesen sich auf einen Holzstuhl in der Ecke des Zimmers zu verpflanzen. Es roch nach verdorrter Kiefer, noch aus der altbackenen Zeit, das alte sumpfige Holz, das morscht. Der Stuhl bröckelte. Wie ein toter Baum der zurückwächst in die Erde. Wer hier schon alles drauf gesessen haben muss, dachte Grosz.

      Kinkel öffnete das breite Fenster zum Durchzug und wies die Zwillinge hinaus, dann wandte er sich Grosz zu.

      »Wir haben heute einen hoch dekorierten und renommierten Gast, Herr Groß. Der könnte uns beiden in Ihrem Fall weiterhelfen. Sie sind ein sehr interessantes Problem, Herr Groß, für die Forschung vielleicht nützlich, nicht aber zum Kriegsdienst wie mir scheinen mag. Doch vielleicht bekommt Sie unsere Koryphäe wieder gerade und einsatzfähig. Können Sie mich verstehen?«

      »Und wer soll das sein?«, fragte Grosz.

      »Es handelt sich um keinen geringeren als Herrn Doktor Pyotr Sergeiwitsch Bobrow. Sie haben den Namen schon mal gehört?«

      »Ich beschäftige mich derzeit mit Krieg, Herr Doktor, nicht mit Medizinern.«

      Kinkel belehrte: »Doktor Pyotr Sergeiwitsch Bobrow, führend auf dem Gebiet der Hirnforschung und Psychoanamnese aus Petrograd. Nicht zuletzt Autor des Buches ›Volkspsychosen und politische Bewegung – über die Wirkungsgewalt von Fantasie.‹ Nicht zuletzt Widerleger Freudscher Theorien. Beinahe sämtlicher. Freud kennen Sie aber? Oder, Herr Groß?«

      »Den schon, ja.«

      »Den also schon, da sieh mal einer an.«

      Bobrow kam ohne anzuklopfen mit einem Stampfer durch die Tür. Ein schratbärtiger, gewichtiger, runder Mann trat hinein.

      »Morgen«, knurrte er, es war Mittag. Der große, dürre Kinkel stand auf und schüttelte seinem Bewunderten die Hand.

      »Da ist er ja schon, hellauf. Herr Doktor Bobrow, einen guten Morgen, einen frischen Kaffee, ja?«

      »Schwarz.«

      Bobrow sah Grosz kurz an, stapfte zum Stuhl, kniete sich über die Sitzschale und zog sie zu sich her. Die Stuhlbeine kreischten auf.

      »Wie ich sehe haben Sie sich schon gesetzt«, stammelte Kinkel, ihm im Nachhinein den Platz zuweisend.

      »Genau«, gähnte Bobrow.

      Er griff nach der vollen Tasse auf dem Silbertablett und schlürfte.

      »Bohnenkaffee, Premiumröstung, nur das Beste. Importwaren sind in unseren politischen Umständen kostbares Gut geworden«, erklärte Kinkel, in tassereichender Geste.

      »Können wir die Leier überspringen und gleich auf den Patienten zu sprechen kommen?«, forderte Bobrow. »Meine vorbezahlten Zugtickets drängen sich auf, ich werde nicht allzu lange bleiben können.«

      »Wie lange haben Sie denn, Herr Doktor Bobrow? Ich erinnere mich, Ihr Wirkungskreis drehe sich um zwei bis drei Nächte?«

      »Eine Stunde«, kürzte Bobrow ab.

      »Aber Herr Doktor Bobrow, wie können wir ihre richtungsweisenden Errungenschaften dann in unserem Patienten durchführen? Ich kann den Jungen doch so nicht zurück an die Front geben. Schenken Sie der Heilung eine Möglichkeit, der Wissenschaft, Herr Doktor Bobrow.«

      »Ich