Die freien Geisteskranken. Jasper Mendelsohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jasper Mendelsohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776693
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und solche, die es nicht über eine gewisse Intelligenzschwelle schaffen. Weißt du wen ich meine? Die Gedankenlosen, oder die Gedankenfreien, je nach Perspektive. Solche, denen jene alle Erklärungen geben können, die sie ja doch nie begreifen werden. Solche, von denen man sagt, dass man ihnen alles zweimal sagen müsse, aber du kannst es ihnen hundertmal sagen, sie werden die Hürde nicht schaffen. Solchen muss man also etwas geben woran sie sich festhalten können. Ein sinnloses Gesetz zum Beispiel, wie das Verbot von Rauschmitteln eventuell, oder die Sperrstunde. Etwas, woran sich keiner hält, worauf sie sich aber berufen können, wenn sie wiedermal nicht verstehen können worum es geht. Denn wenn sie eines nicht haben, dann sind das Argumente. Mit solchen meine ich Spießer, Kleinkarierte, Konforme, selbsternannte Erwachsenenerzieher, solche eben, die immer unter Zeitdruck stehen, aber nie etwas zu tun haben. Auch denen musst du in der Demokratie, oder der Monarchie, oder in welchem System auch immer, etwas an die Hand geben, auf das sie sich stützen können, auch wenn du sie verachtest. Man soll sich ja nicht wegen Kleinigkeiten gleich umbringen müssen. Wir stehen noch ganz am Anfang, alter Freund. Die Demokratie ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss.« »Vielleicht ein Schritt in die richtige Richtung«, sagte Grosz. »Oder in die falsche, mein Freund, oder in die falsche. Wer weiß, wen die noch zu wählen imstande sind.« Herzfelde goss nach. Er ließ gern alles offen. Auch die Flaschen, die geöffnet wurden, wurden ausgetrunken, nicht verschlossen. Also tranken sie, einen nach dem anderen, fabulierten Paralleluniversen zusammen, kundschafteten die möglichen Achsen aus und gerieten in Universalienstreitigkeiten, rauchten, tranken wieder. Solange, bis sich alles um Grosz herum verfinsterte, als hätte man ein Tintenfass über ihm entleert. Sein Freund Herzfelde verstummte, die Tinte lief über seine Ohren, der Raum drehte sich ab von ihm und verschwand, es lief ihm über die Augen. Das ganze Gesicht war mit Tinte bedeckt, der Rausch hatte eingesetzt – ihm war man ausgesetzt, auf Gedeih und Verderb, auf Hochmut und Zerfall.

      Einige Stunden später kam Grosz im Sturztrunk durch die Holztür seines Apartments gebrettert. Die späteste Nacht oder der früheste Morgen warf Saphirblau durch die Jalousien und schraffierte die Sperrmüllmöbel. Es war geschätzte drei Tage vor Sonnenaufgang. Eva schlief noch fest im Schlafzimmer, ihr Schlaf war ein Segen, den er nicht genoss. Er stolperte durch das Finster und suchte das Pendel des Lichtschalters, was sich komplizierter als gedacht herausstellte, da der Gleichgewichtssinn spürbar Lücken aufwies. Alle Gründe, weswegen er sich zugeschüttet hatte, mussten nun ergründet werden, benutzt, verarbeitet, gewechselt, wie Währung. Gerechtigkeit hatte ausgesetzt, Gleichgewicht hatte ausgesetzt, es blieb nichts übrig, er musste nun malen, pinseln, streichen, kritzeln, klatschen, was auch immer, frei von gedanklichen Bremsklötzen; es führte gar kein Weg daran vorbei. Sein Schaffensdrang zwang ihn hin. Kein Widerwort, nun gab es schlussendlich nur noch eine letzte Medizin. Der Alkohol hatte versagt, auf seine Art. Und er warf sich auf den Papierhaufen auf dem Boden vor dem Sofa, schwang sein Handgelenk nach einem Kohlestück das in der Gegend herumgelegen hatte und fing an zu fallen, fiel in die Vielheit seiner Kritzelei hinein, rang dem leeren Papier Bedeutung ab. Dort landete er als Strichmännchen bei den Strichmädchen in ihrem Strichhaus; in einer zweidimensionalen Welt die nach der dritten Dimension strebte und jeden Kreis als Ball und jedes Dreieck als Pyramide wahrnahm in ihrer beschränkten, zweidimensionalen Erkenntnismöglichkeit. Und in der Mitte saß ein fetter Geldsack und zählte seinen Goldschatz und wurde mehr und mehr von Kreis zu Ball. Der reiche Sack. Und das Strichmännchen hob seine Stimme und sang dem Geldball das warnende Lied seiner Stricherwelt. Und das arrogante Großkapital wurde plötzlich ganz klein als Grosz mit seinem Kohlestück sein Schicksal mit dem Stifte sprach:

      Achte wohin du trittst, Übermächtiger

      Langsam unterhöhlen dich deine Totengräber

      Langsam vergiften dich deine Ärzte

      Langsam zersägen dich deine Kinder

      Achte wovon du frisst, Übervoller

      Manche Hure schlitzt Schweinebäuche

      aus denen Unterhalt fließt

      Mancher Freund spannt scharfen Draht

      hinter gestütztem Rücken

      Mancher Spross hält spitzen Dolch bei inniger Umarmung

      Achte wie die Uhr tickt, Überfälliger

      Aus jedem ringbesetzten Finger saugen

      Wohlstandswelpen deine Honigmilch

      Bis zum letzten Tropfen fleischen

      sie sich Speck aus dir heran

      Saure Erde und brennende Blumen

      werfen sie dir in deinen schmalen Sarg

      Knote dir lieber einen Strick, Überschüssiger

      Trete von dem Stuhl in die Luft,

      wie deine Vorgänger und Vorhänger

      Stürze deine Feinde in würdelosen Erbenkrieg

      Ihr Weltenbrand sei dein letztes blasses Werk,

      dein letzter Krebs, dein letzter kranker Hauch

      Achte was du bist, Überlieferter

      Staubiger Atem schnaubt aus deiner einsamen Büste

      Du Statue eines menschenleeren Platzes,

      du zerbrochene Skulptur

      Passanten müssen pissen wenn sie dich passieren

      Niemand will dich dann mehr fressen,

      alle wollen dich, endlich, vergessen

      Grosz schoss mit der Kohle über den Blattrand hervor und hielt es über den Kopf. Fertig, Schluss, Aus, Ende. Er riss das Blatt weg und warf es hinter sich in den Raum. Fertig! Basta! Alle inneren Stimmen verstummt. Im Ohr nur noch Rauschen. Es spendete ihm – Applaus. Er wollte sich von dem Papierhaufen erheben, sich feiern lassen von sich selbst, doch er fiel in ihn hinein, wie ein volltrunkener Erzengel in eine Gewitterwolke. Er griff noch nach seinem verbeulten Zigarettenetui um eine Letzte zu rauchen, doch der Rest der alten Nacht war nur noch lautes Schnarchen. Wie die Ankunft eines unterläufigen Flusses; still, ausgeglichen, gleichmäßig. Wild und klar und schnell schleuderte er sich ins Tal hinab, Nacht für Nacht. Nun ruhte er, wurde tiefer, dunkler, atmete aus und ergab sich in die Breite des Deltas. Guter, gerechter, fester Schlaf; du süßestes Honorar.

      Ein unverfroren frühes Türklopfen weckte ihn an diesem schalen, schmalen Morgen. Langsam drehte er sich in seiner Krakelei, fasste sich an die wummernde Stirn und drückte sich das Kohlestück darauf. Ein vollgesogener Schwamm waberte da in seinem Schädel, ein Planetarium voll Kopfschmerzen. Quälendes Tageslicht, ein bisschen Rache der verdrängten Erfahrung, wider besseren Wissens – zugeschüttet. Wehe dem Fusel, gähnende Verdorrtheit in der Kehle. Ein leerer Magen und doch nicht hungrig, übersatt und übersättigt, Katersäure und kalte Glieder. Und jemand der da an der Tür klopft. Nicht aufstehen, liegen bleiben. »Schlaf!«, rief er sich innerlich zu, »schlaf!« Doch es war zu spät. Die Erkenntnis war schon da, jedes nächtliche Geheimnis wurde sichtbar und blass – der Tisch, der Stuhl, der Schrank standen unaufgeregt wo sie immer standen – keine Monster, Nixen, Labyrinthe oder Schlösser mehr. Nur Tisch, nur Stuhl, nur Schrank, nichts weiter. Er erhob sich in unsicheren Stand und driftete in die Küche an den Gaskocher, schwer wiegt die Erleuchtung. Eva war schon zur Arbeit gegangen und hatte ihm ein Frühstück dagelassen, das würde wieder Ärger geben. Der elende Türeklopfer hatte sich endlich verzogen und schlich davon auf seinen muffigen Dienstwegen. Der Traum der Nacht hämmerte ihm wie Trommelfeuer in den Ohren. Der Traum war immer noch da und verlor sich in seinem Apartment. Er hatte wiedermal von der Front geträumt. Der Bohnenkaffee schmeckte herrlich nach Wiedergeburt. Vorsichtshalber ging er zur Tür um nachzusehen ob da nicht doch noch einer lungerte. Niemand, nur der Nachbar von schräg gegenüber glotzte ihm entgegen, während er mit seinem Mittagessen unter dem Arm seine Tür aufschloss. Er dürfte die Fahne riechen, dachte Grosz, und er guckte ihm interessiert auf seine Stirn, als hätte er dort einen Fleck. Nachbarschaftshalber blieb man zuvorkommend und wechselte ein paar öde Worte. O weh, dachte Grosz mit Schädelwehmut, der kleine Sprech für Zwischendurch. Der kurze Talk im Hausflur. Das gefürchtete Bla-Bla. Das höflichkeitshalber