Die freien Geisteskranken. Jasper Mendelsohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jasper Mendelsohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776693
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schrie der Gewerkschaftsbruder, der ihn dort liegen sah. ›Aufstehen, verdammte Kacke!‹

      Der Fabrikarbeiter hielt sich die Kehle zu, seine Augen schielten im Wahn zu beiden Seiten wie ein panischer Stier.

      ›Aufstehen jetzt!‹ Der Gewerkschaftsbruder kam zornig auf ihn zu und versuchte ihn hochzureißen, zwei andere Fabrikarbeiter kamen ihm zu Hilfe, doch der Entstellte fiel immer wieder zu Boden und pfiff aus letztem Lungenloch.

      ›Scheiße nochmal!‹, bellte der Gewerkschaftsbruder die beiden Helfer an. ›Wer ist gerade Sanitäter?‹

      Die Helfer schüttelten die Köpfe, der Fabrikarbeiter wurde starr und die Abstände zwischen den Atemzügen wurden kürzer.

      ›Den Verbandskasten!‹, befahl er und die Helfer rannten in zwei verschiedene Richtungen, wissend, nicht zurückzukehren. Währenddessen ging der Fabrikarbeiter auf das schönste Licht zu, das er je gesehen hatte. Es lockte ihn und zog ihn zu sich, eine warme Stimme sang ihm das raffinierteste Gedicht, das er je vernommen hatte. Er wurde zweiundzwanzig Jahre alt.

      ›Tot!‹, schrie der Gewerkschaftsbruder. ›Tot!‹, schrie er den herumstehenden Arbeitern zu. ›Seht ihr was hier passiert?‹ Er sah in ihre erwartungsvollen Angesichter. ›Hier sterben Menschen! Das bedeutet Streik!‹

      ›Streik!‹, jubelten die Arbeiter und warfen ihre Werkzeuge in die Öfen und ihre Fäuste an die Hallendecke. Die Ketten knatterten in den Zahnrädern und die Tore öffneten sich und ließen Sonnenlicht und frische Luft herein. Einige hoben die junge Leiche hoch und trugen sie voran zum Ausweg in die Freiheit. Wie ihren Messias, der für ihre Sünden an der Maschine gestorben war.«

      Grosz drückte seine Zigarette in den Aschenbecher. »Schön«, sagte er, »doch werde ich den Ohrwurm dieser Sozialistengesänge nicht los.«

      Herzfelde sah ihn besserwisserisch an und zog die Mundwinkel hoch.

      »Erstens, George, war das hier erst das Initial, das Furioso folgt jetzt und zweitens würde ich mir etwas mehr Empathie von dir wünschen, das Lied mag alt sein, doch real ist es leider auch.«

      »Ich bin still«, sagte Grosz und machte sich eine weitere Zigarette an.

      »Also«, sprach Herzfelde. »Oben, über dem Ausgang thronte das Büro des Papiermachers mit Panoramablick auf das Fabrikgeschehen. Der Papiermacher saß am Schreibtisch und tabellierte mit seinem Kopf in sein Zahlengeflecht verstrickt. Er horchte auf, als er Gebrüll und Stampfen hörte und stellte sich ans Fenster für eine Situationsanalyse. Arbeiterströme gingen da unter seinen Füßen hindurch und es war noch nicht einmal zwanzig Uhr dreißig. Er runzelte die Stirn. Was war passiert? Wie kam es zu dieser dysfunktionalen Menscheneruption? Es gab keinen mathematisch nachvollziehbaren Anlass zu einem Streik. Es musste sich also um etwas Prismatisches auf der Emotionsebene handeln. Eine äußerst störende Variable in einer komplexen Formel, die Reibungslosigkeit bedürfte um zu greifen. Er absolvierte die notwendigen Telefongespräche, schrieb die letzten Umsätze in seine Kalkulation, subtrahierte die vorerst gesunkenen Personalkosten, deckelte die Vorschüsse, nahm sein Jackett vom Kleiderständer und machte Feierabend.«

      »Und dann?«

      »Ruhe, George. Als er nach Hause kam, wartete seine Frau schon vorfreudig auf ihn. Sie hatte die beiden Mädchen eingesammelt, fünf und sieben Jahre alt und sie erschreckten ihn mit einem frisch gebackenen Kuchen als er pünktlich zur Tür hereintrat. Es war ein gewöhnlicher Tag, kein Geburtstag oder Jubiläum, die freudige Überraschung beinhaltete keine mathematische Bedingtheit. Sie hatten sich nur auf ihn gefreut. Der Papiermacher hängte sein Jackett an den Haken, breitete die Arme aus und umarmte seine drei Damen. Wie süß sie ihm waren. Wie vernünftig und beständig ihm das Leben mit ihnen war. Er gab seinen Prinzessinnen liebe Küsse auf ihre Köpfchen und seiner Königin einen liebenden auf die Lippen.«

      Grosz drückte den nächsten Stummel in die Asche und unterbrach ein weiteres Mal.

      »Ich verstehe, Wiz, der eine ist qualvoll verreckt, der andere führt unbeeindruckt ein schönes Leben. Die Quintessenz soll also lauten: Der Mensch ist unschuldig, das System ist schuld. Zeige dem System deinen nackten Hintern und es zeigt dir seinen. Kommt mir bekannt vor.«

      »Nun, George«, sagte Herzfelde, »um es für dich abzukürzen: es geht damit weiter, dass die Streikenden sein Haus anzünden und um die Tatsache, dass Papier gut brennt. Aber ja, im Großen und Ganzen geht es damit zu Ende, dass der Mensch nicht böse handeln will, aber dadurch, dass er von Systemen gezwungen wird das Richtige zu tun, Verbrechen an seinem Nächsten verübt. In direkter Form, wie die Streikenden, die Fackeln durch die Fenster werfen, als auch in indirekter Form, wie der Papiermacher, der beflissentlich die Kosten drückt. Beide handeln aus ihrer Position heraus richtig, doch handeln sie, wenn man das Problem von oben aus betrachtet, beide bösartig. Also ja, das System ist schuld, es ist zu einfach, nicht wahr?«

      »Tja, nur glaube ich nicht, dass irgendein Übermensch ein böses System geschaffen hat, um einen Keil zwischen die Menschheit zu treiben.«

      »Das sage ich auch nicht. Das System hat sich selbst geschaffen, da gibt es keinen Schöpfergott oder Hades, der da wirkt, denn es ist kein System im eigentlichen Sinne, sondern ein Gefüge. Das System ist die Idee, die der Mensch hat, wenn er einen Plan entwirft, wie seine Träume aussehen – das Gefüge ist das, was dann daraus entsteht. Alle fromme Fantasie zerbricht an einem Wimpernschlag der Realität. Der Zufall hat den dunkelsten schwarzen Humor. Die repräsentative Demokratie beispielsweise: aus einer Mehrheit bildet sich der gemeinsame Plan in eine gemeinsame Zukunft – das klingt klug, wichtig und vernünftig. Doch nur, weil es eine Mehrheit für etwas gibt, bedeutet das ja nicht, dass diese auch gerecht und richtig handelt. Eine Mehrheit bedeutet nur eine physische Überlegenheit gegenüber einer selbstgeschaffenen Minderheit. Und Karriere in der Mehrheit machen die Spezialisten, die Grübler und Schnüffler der Minderheit bleiben, wie der Name schon sagt, gering. Die Spezialisten, George. Sieh es anhand unserer demokratisierenden Zeit: Der Spezialist für Wirtschaft entscheidet über Wirtschaftsangelegenheiten – Beispiel Schmidt. Wie erschafft man mehr Geld? Man druckt es – die Folge: Inflation und neue, ja, noch größere finanzielle Seifenblasen – aber er als Spezialist hat seine Spezialaufgabe gelöst. Der Spezialist für Krieg beschäftigt sich mit Kriegsangelegenheiten – Beispiel Noske. Wie entwaffnet man die Spartakisten am schnellsten? Man erschießt sie – die Folge: Ganze Familien, die Rache schwören und unerfindlich größere Widerstände zu späterem Zeitpunkt – aber der Spezialist hat seine Spezialaufgabe gelöst. Und so weiter durch das ganze Reichskabinett. Sie alle tun das Richtige aus ihrem Amte heraus und dadurch handeln sie bösartig. Banale Realität zerschneidet die umsichtigste Fantasie. Ich fasse zusammen, die Spezialisten: Sinnlose Arbeit produziert Sinnlosigkeit, wie im Beispiel eins. Blinder Aktionismus produziert Reaktionismus an sich selbst, wie im Beispiel zwei. Wenn sich so eine Demokratie einbürgert, hat die Menschheit bald versagt. Man sollte nicht wählen, man sollte würfeln.«

      »Du willst die Monarchie zurück?«, fragte Grosz.

      »Um Gottes Willen, George. Nicht erben, würfeln sage ich.« »Was wäre dann deine Utopie, Wiz?« »Ich lasse mich nicht in eine Utopistenecke schieben, George, ich bin ganzheitlich. Es ist doch so, die Entstehung eines Systems, ab ovo betrachtet: Im Normalfall wird um das eigentliche Anliegen, nennen wir es das ›friedliche Zusammenleben aller Menschen‹, zielgenau herumdebattiert. Dann findet man die schlechtmöglichste Antwort auf die von vornherein falsch gestellte Frage und schafft ohne Not ein weiteres und neues Problem, das seinerseits wiederrum umfangreich umgangen wird, bis man sich letztendlich reinweg von der Realität verabschiedet hat. Es tut mir leid, mein Freund, aber mir bleibt nur eine Entropie.« »Nihilismus«, fügte Grosz hinzu. »Ganz im Gegenteil, Omniaismus, was auch immer. Irgendeinen Ismus unter all den Ismussen wird es schon für mich geben. Komm ran, ich setze noch einen frischen Kaffee auf, willst du auch einen?« »Es ist nach Mitternacht«, sagte Grosz. »Ja, genau«, entgegnete Herzfelde und ging an den Gaskocher. »Nach Mitternacht nur noch Alkohol.« Grosz war durstig. Also nahm Herzfelde wie ein einsichtiger Demokrat einen Korn aus der Schublade und füllte zwei Gläser auf. »Und?«, fragte Grosz. »Wie glaubst du entstehen diese Phänomene, diese Gefüge?« Sie kippten den ersten jungfräulich hinunter. »Gefüge, ja«, wiederholte Herzfelde, während