Beste für ihren Patienten wollen, dann schicken Sie ihn nach Hause. Auch wenn er einen hervorragenden Probanden für mein neues Buch abgegeben hätte, es warten andere. Große Fragen warten auf mich, große Antworten sollen ihnen gegeben werden. Ich schreibe Sie auf meine Warteliste. Meine Adjutante wird Ihnen die Rechnung für die Bearbeitungsgebühren zukommen lassen. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Sie verzeihen meine Professionalität.« Kinkel konnte nur mit einem plötzlich wirren Krächzen antworten, drehte den Kopf um dreihundertsechzig Grad und begann zu schielen. »Herr Prinzipal?«, vergewisserte sich Bobrow und beobachtete prüfend, wie sein Gegenüber bemerkenswerte Eigenschaften zu zeigen begann. Er zog einen Notizblock aus dem Mantel und setzte Häkchen. Kinkel hob beide Arme und weinte ein wenig. »Was ist los mit mir? Mir wird so blümerant.« »Ich habe Ihnen ein harmloses Psychopharmakon verabreicht.« »Ein was?« »Ein harmloses Psychopharmakon, Sie wirkten mir neuronal verkrampft, also empfahl es sich mir, Ihnen ein leichtes Anxiolytikum in Ihren Kaffee zu träufeln.« »Sie haben meinen Kaffee vergiftet, Sie Irrer?« Kinkel war außer sich und schnaufte, sein Brustkorb wölbte sich überproportional. Bobrow notierte. »Sie beruhigen sich, Ihr Heilprozess ist eingeleitet. Ich bin erstaunt, dass es bei Ihnen so früh einsetzt, bei einem gewöhnlich mittelgroßen Landwirbeltier setzt der Effekt erst nach einer Latenzzeit von zwei bis drei Stunden nach Verabreichung ein. Das ist interessant, bedenkt man die minimale Erhöhung der Dosis.« Er kreiste eine Notiz auf seinem Block ein. »Sehe ich denn aus wie ein Landwirbeltier?«, lallte Kinkel und blinzelte fest und intensiv, machte einen Buckel und keuchte wie ein durstiges Kamel. Bobrow sah ihn an und hob eine Augenbraue. »Ein Anxiolytikum ist ein Antitoxikum zur Handhabe von übereifrigem Ehrgeiz und etwaige humanoide Geltungssorgen. Etwas germanische Schwarzwurzel zerstampft mit dem Koka-Blatt aus den amerikanischen Anden, dazu chinesisches Opium und einen Schuss von diesem Voodoo-Sekret eines dieser zentralafrikanischen Medizinmänner; keinen Schimmer was da drin ist, aber es wirkt. Sie werden sich schon bald wie neu fühlen. Sehr neu.« Er drückte Kinkel von sich fort und zog die Tür hinter sich zu. Kinkels eingefallene Schultern fielen ein Stück tiefer, so dass sein langer Kittel seine Schuhspitzen berührte. Er wandte sich schwankend zu Grosz und kreiste mit seinen Augen als sähe er ihn durch ein Kaleidoskop. »Sie haben Herrn Doktor Pyotr Sergeiwitsch Bobrow gehört. Ich kann Sie nicht zurück an die Front entlassen, Sie müssen zurück in ihr Heimatdorf. Wo ist das?« »Berlin.« »Ah, ja. Es tut mir leid. Eine Lobotomie können wir mit unseren gewöhnlichen Mitteln nicht durchführen.« Grosz atmete auf. Er ließ abermals vom Sprung aus dem Fenster ab. Es war schon eine fixe Idee geworden. Kinkel hickste und drehte sich, er rief die Zwillinge herein, die Grosz des morschen Holzstuhls enthoben. Tausend Steine fielen von ihm ab. Dann haben sich die harten Jahre auf der Akademie der feinen Künste doch bezahlt gemacht. Zurück nach Berlin. Raus aus dem Krieg. Zurück in all die liebevollen Kleinigkeiten und großen Schönheiten. Zurück ins Leben. Ins Weiterleben. Da wäre er fast gewesen, der Tod, die Demenz, und sie hätten ihn beinahe gehabt. So gesehen war Bobrow sein Erlöser. Der Mann, der ihm mit seiner Fehldiagnose das Leben rettete. Kunst kann also Leben retten. Gelobt sei der Entdecker. Kinkel bremste seine Voreiligkeit mit letzter Geisteskraft. »Wir werden noch drei Wochen die Drehstuhltherapie anwenden und Überraschungsbäder durchführen, zugegeben, veraltete Methoden im Vergleich zur Bobrowschen Lobotomie, doch vielleicht greifen sie ja dieses Mal. Hoffen wir das Beste.« Beim Herausgetragenwerden sah Grosz, wie sich der Prinzipal unter seinen Schreibtisch verkroch um seine Drogenerfahrung professionell zu durchleben. Dann schleiften die Zwillinge den Patienten durch den Gang und warfen ihn zurück auf sein rostiges Bettgestell. Der alte Kauz wippte immer noch vor sich hin und blieb dabei bis in den frühen Abend »Ich muss hier raus, alter Mann«, sagte Grosz irgendwann, als er sich die Daunen überzog und an die torfige, verschimmelte Decke sah. »Gib Ruhe!«, zischte ihn der Kauz an. »Sei hart, habe Geduld.« »Ich bin ruhig«, sagte Grosz. »Das ist alles was du musst«, tatterte der alte Kauz. »Das ist das Geheimnis. Nehme dir Zeit. Die Zeit ist das Einzige, das man mit roher Gewalt an sich reißen muss.« Dann kicherte er verschmitzt, wie ein Kleinkind auf einem Piratenschatz. »Gute Nacht, alter Mann.« Mehr hatte Grosz auch nicht zu sagen, er war müde. Doch der Kauz ließ nicht locker. »Gelassenheit brauchst du, junger Freund, eiserne Gelassenheit. Denn Gelassenheit ist nicht müdes Labsal und hat auch nichts am Hut mit Passivität. Gelassenheit ist die Angriffslust der Gemütlichkeit. Wo ein Gaspedal, dort ein Bremspedal, beide haben Wirkgewalt, doch nur eines hat die Macht mit einem Tritt auch Halt zu machen: Die Gelassenheit.« Grosz setzte sich auf, beugte sich vor und gab dem Kauz in ruhiger Erzählstimme Resonanz: »Gelassenheit?« Der Kauz setzte sich auf und nickte überzeugt. »Wenn du wüsstest, was es schon alles auf mich gelassen hat, alter Mann. Kanonenkugeln, Schrapnellschrot, Dreck, Menschenteile, Flugzeuge, ja, der rote Baron höchst persönlich ist vor meinen Augen heruntergekracht. Auf mich hat es schon das ein oder andere runtergelassen. Die Maschinen hinter uns rüttelten die Erde auf, wir waren bloß Insekten und hinter uns die Kehrbesen. Fleisch zwischen Pressplatten. Die Mäuler voller Quarzsand, die Socken voller Schlamm, innen und außen alles aufgewühlt, alles braun. Und die Jagdflieger, über uns, in heldenhaften Zweikämpfen, für gar nichts gut. Aber immer noch besser als die industrielle Vernichtung auf dem Boden, nur dort oben machte Krieg noch einen Sinn, so dachte man fast. In Form von Duellen. Duellanten, in zwischenmenschlichen Zweikampfbeziehungen, Mann gegen Mann. Die stürzenden Vögel zogen Brandfahnen hinter sich her und rahmten das Fiasko tief im Grund mit heiterem Orange. Und alles Feuer fiel vom Himmel und dort lagen wir in unseren Grabkammern. Das Licht erstickte in weiter Ferne und wir schaufelten unsere Gruben tiefer, von Angst und Kälte getrieben, die ganze Nacht hindurch, bis über uns die totbringende Morgenröte aufbrach und die Rauchwolken wieder sichtbar wurden, die den Himmel vergifteten. Und es schneite Asche und der Atem kondensierte zu öligem Film und die Fäuste wurden blau und die Fingernägel zersprangen. Was es mir schon alles vor die Füße gelassen hat, alter Mann. Heiß war der Himmel, kalt war die Erde. Und alles um uns herum erfror oder zerschmolz. Das Alles, das ist Wahnsinn! Alles Wahnsinn! Bin ich des Wahnsinns? Oder ist es alles andere? Egal wie lange du Ruhe gibst und herumsitzt, irgendwann wird schon jemand von alleine kommen, der dich erschießt. Und darum buddelten wir uns ein, darum schrien alle immer herum und alles war laut, laut, laut. Nur die brennenden Krähen fielen still. Und ihr Aufschlagen in nahem Gebiet spendete uns kurzzeitig warmes Licht, wie ein makabrer Hoffnungsschimmer. Da war nichts zum Ruhe geben, da ist auch nichts und da wird auch nie etwas sein. Da wurde, ist und wird geschossen. Und wenn du daran verrückt wirst, versuchen sie dir den Schädel zu öffnen um dir das Gehirn zurecht zu schneiden. Da kannst du dir deine Gelassenheit aber mal getrost in deine Waffe Laden, dir das Rohr an die Schläfe halten und drei Mal abdrücken, alter Mann.« Der Kauz presste sein Gesicht zusammen. »Gib Ruhe!«, keifte er stur. Er war zu alt, zu gewohnt, zu versteinert um noch etwas zu ändern. Natürlich hatte er recht, aber er war auch keine traumatisierte Künstlerseele wie Grosz, er war verwachsen und eingeklemmt. »Gib Ruhe!«, grummelte er, zog sich seine Schlafmütze, ein frommer Brauch aus dem vorigen Jahrhundert, über den Kopf und verkroch sich unter seine Decke wie unter ein Dach. Grosz tat es gut mal darüber geredet zu haben. Dann legte er sich hin und schloss die Augen für die früh verordnete Nachtruhe zwischen den Hysterie-Patienten. Einer summte wie eine Biene, einer raschelte wie die Blätter im Wind und einer bepisste sich wie der Morgentau eines weiteren, hysterischen, diagnoseversprechenden Vormittages.
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Zurück in 1921.
Da liefen sie, die Hanswürste mit ihren Hanswürstinnen und Gewürzgurken der ersten Gewerkschaften im feindbesetzten Düsseldorf und demonstrierten ihren Ungehorsam. Die Industrie- und Bergbauunternehmen der Region waren unter der Kriegsschuldeneintreiberei von französischen und belgischen Militärs besetzt und kontrolliert. Was nützlich war wurde einkassiert, von der Steinkohle Bochums bis zum Hafer vor Köln. Die Arbeiter hungerten sich von Tag zu Tag und was sie an Energie übrig hatten, brüllten sie der Demonstrationseskorte der Soldaten entgegen an der sie vorbeidefilierten und alte Kriegsmärsche sangen, über den langen und reinen, vereinten und ehrlichen, heißen, deutschen Hass, der ewig währte und ohne Unterlass und so weiter. Ansgar Dachs klopfte die Asche aus seiner Pfeife in das Rinnsal, spuckte griesgrämig den Tabak zwischen seinen Zähnen auf die Straße und kehrte um in Richtung Kramladen. Mit den Arbeitern konnte er nicht viel anfangen. Keine Gemeinsamkeit, Parallelentwicklung, Koexistenz. Dachs war von Beruf Kunstfälscher, aber nicht irgendeiner, kurz: der Beste. Niemand kannte ihn außerhalb seines