Die freien Geisteskranken. Jasper Mendelsohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jasper Mendelsohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776693
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etwas anstellen. Schnappen wir uns den Lapislazuli, auf, auf, in die Eifel, da gibts was zu erleben.« Brockhaus schnürte schon seinen Feldsack auf, sammelte die erforderlichen Gebrauchsgegenstände aus dem Universal seines Ladens, das alles beinhaltete außer Lapislazuli und Weingläser und forderte Dachs zum Mitdenken auf.

      Die Eifel war ein trauriges Naturschauspiel. Es war nieslig, neblig, kalt, grau, sauer und hatte alles, worum man die wenigen Bauern in ihren kleinen Dörfchen nicht beneidete. Im Zentrum Europas ein ausgewachsenes Nichts. Nur Höhlen gab es jede Menge, von den wenigen Bahnhöfen erforderten sie lange Märsche.

      Brockhaus schlug einen Bolzen in den Boden des Höhleneingangs und befestigte den Ariadnefaden, Dachs entzündete die Funzel und sie stiegen hinab in die Unterwelt. Die riesenhaften Schatten der Felszacken tanzten an den kristallin schimmernden Wänden um sie herum in der feuchtkalten, stehenden Grottenluft, es tröpfelte und plätscherte überall und nirgendwo. Je tiefer sie stiegen, desto gewaltiger bauten sich die Stalagmiten auf und sahen aus wie Orgeln und Altare in dieser Kathedrale des Hades. Sie stiegen durch enge Flure und landeten in majestätischen Hallen, aus allen Ecken quietschten die müden Fledermäuse in ihrer Tagruhe gestört, um ihre Stille gebracht.

      »Dort!«, rief Dachs und deutete auf ein Flimmern, das einem Felsspalt entsprang, so als mache jemand anderes Licht, hier unten in der Tiefe. Ein paar sensible Fledermäuse hatten genug Krach gehört und flogen kreischend davon.

      »Da ist jemand«, resultierte Brockhaus und sie schlichen zu dem Spalt. Hinter dem Felsen führte ein weiterer Weg zu obskuren Geheimnissen. Wissbegierig zwängten sie sich hindurch und folgten dem Leuchten, welches bald zu knistern begann und aus dem Verdacht wurde Gewissheit, dass dort am Ende des Weges ein Feuer brannte. Als sie das Lager erreichten sahen sie einen rundlichen Raum mit einem natürlichen Rauchabzug in der Decke, drei Kisten standen dort, eine Angel lehnte an der Wand und ein toter Hase hing ab. Am Feuer saß ein auffallend junger Mann, mit langem Bart und Zottelhaaren in eine Art Toga eingewickelt. Er kniete dort friedfertig vor einem kleinen Felsbrocken wie ein Japaner vor seinem Esstisch und bestrich den Stein mit einem Zweig. Er tunkte den Zweig in eine Pfütze neben ihm, so als nehme er Tinte oder Farbe auf und strich weiter. Es sah aus, als ob er schrieb, oder etwas Bestimmtes malte. Sanftmütig in seine Arbeit versunken.

      Brockhaus hustete absichtlich zur Begrüßung. Ruhig sah der Einsiedler auf.

      »Gäste«, sagte er feststellend, weder freundlich noch unhöflich, die Tatsache erfassend.

      »Gäste«, sagte Brockhaus, auf eine neugierige Nachfrage wartend, doch diese kam nicht. Der Einsiedler tunkte abermals seinen Zweig in Wasser und schrieb oder malte weiter, als wäre die Konversation für ihn damit beendet, wenn sie denn begonnen hätte.

      »Sind wir hier richtig?«, fragte Dachs augenzwinkernd und klopfte Brockhaus auf die Schulter, als Zeichen um weiter nach dem Lapislazuli zu suchen. Doch Brockhaus winkte ab.

      »Sie wohnen hier?«, fragte er den Einsiedler.

      »Ich sitze hier«, erklärte der. »Wohnen würde ich nicht sagen.«

      »Ein Irrer«, sagte Dachs zu Brockaus. »Lass uns weitersuchen.«

      »Wir haben doch eine Ewigkeit Zeit, Ansgar, komm setzen wir uns erstmal ans Feuer. Wollen Sie den Hasen da ganz alleine essen, oder ist da noch Raum für einen Bissen?«

      Der Einsiedler zog eine Schale gegrillter Fleischstückchen hinter dem Felsen hervor und schob sie ans Feuer.

      »Spatzen und Fledermäuse«, nannte er es. »Nehmen Sie sich, wie es Ihnen schmeckt.«

      Dachs klatschte prompt in die Hände. »Ich habe Pastete dabei, wenn du jetzt unbedingt was essen musst, Kurt.«

      »Ich bevorzuge Spatzen und Fledermäuse«, sagte Brockhaus trocken, setzte sich ans Lager und griff in die Schale. Dachs tat ihm nörgelnd gleich. Brockhaus‘ unnütze Schnüffeleien nahmen ihm oft einiges an Geduld ab.

      »Dann erzählen Sie mal, Herr Einsiedler«, eröffnete Brockhaus. »Wie sind Sie hierhergekommen? Warum sind Sie hier? Sie sind doch noch jung wie ich sehe, was suchen Sie in dieser gottverlassenen Höhle?«

      Der Einsiedler nahm wieder seinen Zweig zu Hand und fuhr mit seiner Arbeit fort.

      »Ich schreibe meine Gedanken auf und male meine Gefühlswelt aus und bin noch nicht fertig damit. Ich brauche noch ein wenig Zeit und vielleicht für immer. Viele Dinge stehen hier auf den Steinen, viele Leben habe ich schon gezeichnet.«

      »Mit Wasser?«, fragte Brockhaus mit vollem Mund. Dann spuckte er einen kleinen Schnabel ins Feuer. Es schmeckte. Dachs biss derweil in seine Pastete.

      »Das macht keinen Unterschied«, sagte der Einsiedler.

      Brockhaus lachte Dachs begeistert an, doch dieser guckte nur unbeeindruckt zurück.

      »Ich war auch mal ein Mensch«, sagte der Einsiedler und nahm an Fahrt auf. Offenbar tat ihm sprechen gerade gut.

      »Ich dachte, ich wäre überzeugt gewesen und ich war mir fast sicher klug zu sein. Ich sah mich auf einem richtigen Weg, ich dachte, ich hätte etwas verstanden. Ja, ich dachte, mein Gefühl könne mich nicht täuschen, ich dachte, ich hätte die Wahrheit eingefangen wie ein Glühwürmchen und auf den Punkt gebracht, so als leuchtete sie mir ein. Also wurde ich Soldat, um Held zu werden. Wir kamen in unseren ersten Kampf an der Yser bei Langemarck. Und dort, auf diesem Feld, erkannte ich das Ausmaß meines Irrtums.«

      Er hob seine Toga zur Seite und zeigte zwei Einschusslöcher in seinem Brustkorb. Er schob den Vorhang wieder zu und hob die Hände.

      »Ich war doch so klug, ich hatte doch verstanden, es leuchtete mir doch alles ein. Wie konnte das alles, wie konnte ich so ein Irrtum sein? Das fragte ich mich.« »Wann fragten Sie sich das?«, hakte Brockhaus interessiert nach. »Schon wieder eine Kriegsgeschichte? Na dann gute Nacht.« Dachs stopfte den Pastetenrest in seine Backentaschen, spülte aus der Feldflasche etwas Bier nach, zog seinen Beutel nach hinten und legte seinen Kopf darauf für ein Nickerchen. Der Einsiedler holte tief Luft. »Es begann so: Das erste, woran ich mich erinnere, ist unser Hauptmann. Stolz und souverän ging er voran auf das Feld, dem feindbesetzten Dorf entgegen. In der einen Hand hielt er seine Pfeife, mit der er auf den Feind zeigte, in der anderen den Säbel, mit dem er uns zuwinkte und uns zu verstehen gab ihm zu folgen. Sein Schnauzer wehte in diesem besonderen Wind, der steigt, kurz bevor ein Gewitter hereinbricht. Leichte Wolken rasten über uns herüber, sanfte Blitze flackerten in den trüben Schwaden auf. Lange hatten wir auf die Ehre gewartet. Die erste Schlacht sollte beginnen, der Ruhm war uns nah und heilig. Aus den Gebäuden des Ortes flimmerten Lichter auf, wie ein ganzer Sternenhimmel, der sich aus dem Nichts auftat und ihre Strahlen sausten und pfiffen mir um den Kopf, die Geschosse prasselten dicht wie ein Hagelsturm mitten in unser Bataillon. Schrapnelle, Schrot, alles was aus Eisen war befand sich in der Luft. Einer nach dem anderen zitterte zu Boden. Ein Streifschuss traf meinen Helm und klingelte mich wach, ich ließ mich fallen. Als ich wieder nach vorn sah, erkannte ich unseren mutigen Hauptmann an der Spitze, er kniete mit gesenktem Kopf im Acker. Seine Pfeife lag neben ihm, sein Säbel rutschte ihm langsam aus der Hand und hielt sich nur noch mit der Schlaufe am Griff an seinem Gelenk. Neben mir lag ein alter Kamerad aus der Kaserne, den ich noch aus Berlin kannte. Schlosserlehrling war er im Zivilverhältnis. Seine Vorderzähne waren herausgebrochen, sein rechtes Auge war weiß, er brüllte mich an. Ich lag regungslos neben ihm und starrte ihm in sein sterbendes Gesicht, das war‘s, ich war tot, ich hatte meine Pflicht erfüllt. Das war sie also, die Ehre. Ich bettete meine Wange in den Matsch, sah meinen Kameraden brüllend zu Ende leben und fiel in einen dreitägigen Schlaf. Als ich aufwachte fand ich mich mit Chlorkalk bestreut, gegen den Verwesungsgestank nehme ich an, es half nicht viel. Die Toten um mich herum waren aufgebläht und neue, frische, waren dazugekommen. Sie liefen einfach über die Leichen drüber und ließen sich weiter erschießen. Immer wieder und wieder rannten sie an. Immer vorwärts, vorwärts – wer fällt, fällt. Alle Verwesungsstadien waren zu erkennen, in Sechsstunden-Intervallen. Mein Kamerad brüllte schon lange nicht mehr, er war schon aufgeplatzt. So lagen sie da, die, welche vor ein paar Tagen noch Loblieder auf das Vaterland sangen mit Wolfsgeheul und Tschinderassa, mit Gewehren in ihren Händen und Kugeln in ihren Herzen. In alle Himmelsrichtungen über den Acker gesät, das Schanzzeug in alle Winde verstreut, von den schweren