Das Blut der Auserwählten. Thomas Binder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Binder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242447
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verarbeiten. Beinahe, aber nie endgültig.

       Die Beerdigung bestand aus fünf Leuten inklusive des Pfarrers, dessen Grabrede nur sehr kurz war, da Mark den größten Teil seines Lebens besoffen in Bars oder bei der Arbeit in der Werkstatt verbracht hatte ...

       Niccy war am Boden zerstört und hatte praktisch schon mit ihrem Leben und dem ihres ungeborenen Sohnes abgeschlossen. Kurt empfand dieses eigenartige und fremde Gefühl des Mitleids noch stärker, nachdem sie mit der Geschichte fertig war. Er hatte sich noch nie vorher so gefühlt... Aber, sie war so ... allein. Das fand Kurt nicht richtig. Außerdem fühlte er, wie Niccy immer weiter in Depressionen ab glitt.

       Man könnte fast sagen, dass er zum ersten Mal in seinem bisherigem Leben, so etwas wie Liebe empfand, so etwas wie ein positives Gefühl, wie Geborgenheit, Sicherheit, oder Sympathie. Wie etwas, weswegen es sich lohnte, zu leben.

       Er und Niccy verbrachten fast einen Monat damit, stundenlange Gespräche zu führen und unzählige kurze Augenblicke der Hoffnung zu erleben. Er wollte sie wieder aus dem psychischem Loch heraus ziehen, in dem sie steckte. Zwischendurch schaffte Kurt es sogar, sie ganz kurz zum Lachen zu bringen mit irgendeiner Geschichte, in der er immer der tollpatschige und unfähige, aber liebenswerte Protagonist war.

       Er fühlte sich irgendwie verantwortlich für sie und sie kamen sich körperlich wie seelisch näher und näher. Kurt begann, die Lebenslust wieder zu finden und konnte Niccy, so gut es ging, immer weiter aufbauen. Zum ersten Mal spürte Kurt, wie Gefühle eine positive Auswirkung auf ihn selbst hatten.

       Gefühle, die Menschen halfen; die Menschen am Leben erhielten; die Niccy am Leben erhielten und wahrscheinlich auch Kurt selbst.

       Die Zeit verging rasend schnell. Kurt hatte mittlerweile wieder angefangen, als Mechaniker in derselben Werkstatt weiter zu arbeiten. Niccy hatte sich inzwischen die blonden Haare kurz schneiden und schwarz färben lassen. Ein Zeichen für einen neuen Lebensabschnitt.

       Sie hatte sich verändert. Früher war sie ... anders, hilfloser. Aber jetzt ...

       Dann, einen Monat später, bekam Niccy ihren Sohn, Brandon. Das Kind war eine Frühgeburt, da sie damals erst im 7. Monat war. Anfangs war es nicht sicher, ob der Kleine überleben würde, aber Brandon war ein Kämpfer.

       Kurts Bestimmung sollte jedoch – trotz der Gefühle für Niccy - nicht die eines guten Vaters sein.

      6

       L.A., Kalifornien, 1968

       Kurt war nicht bei der Geburt dabei. Das heißt, er wäre dabei gewesen, wenn er nicht zu spät gekommen wäre; wenn er es nicht vergessen hätte.

       Niccy war damals aus Sicherheitsgründen schon einige Tage vor der Geburt im Krankenhaus geblieben und am Tag von Brandons Geburt kreuzte Kurt erst Stunden später auf, nachdem sie ihn angerufen hatten, dass die Geburt unmittelbar bevor stünde.

       Trotz all seiner traumatisierten, abgetöteten Emotionen hatte Kurt noch eine Zeit lang Schuldgefühle, dass er nicht da gewesen war, doch diese gab er bald auf. Zuerst war er noch enthusiastisch über Niccys Schwangerschaft, aber jetzt, wo das Kind erst einmal da war, interessierte ihn die ganze Sache nur mehr wenig. Der Zauber war verflogen.

       Doch etwas anderes fiel ihm seit der Geburt Brandons auf: plötzlich waren alle Freunde von Niccy - Kurt selbst hatte noch immer keine Freunde, nur Arbeitskollegen – freundlich und beinahe liebevoll zu ihm. All diese Nichtsnutze, die ihn vorher verspottet und verabscheut hatten, die sich vor Marks Tod hinter seinem Rücken lustig über ihn gemacht hatten, wenn sie Niccy oder Mark in der Werkstatt besucht hatten, lächelten ihn auf einmal mit einem geradezu ehrlichen Ausdruck von Freude an, die ihn erschreckte und gleichzeitig durch seine Ironie amüsierte. Alles bekam plötzlich eine scheußlich künstliche, zerbrechliche Harmonie, die jegliche problematischen Zukunftsaussichten einfach überdeckte.

       Er kam sich vor wie eine der Hauptfiguren einer dieser unglaubwürdigen Seifenopern, die allmählich immer öfter im Fernsehen auftauchten. Obwohl Kurt sonst kein außergewöhnliches Gespür für Humor hatte, setzte ihm der Gedanke an all diese verlogenen Schwächlinge und das nun tägliche Theaterspielen immer wieder ein zufriedenes, erheitertes Lächeln auf.

       Doch er fühlte noch ein anderes Gefühl in sich aufsteigen. Ein sehr negatives Gefühl, das nichts Gutes für Niccy und ihren Sohn bedeuten würde …

       Dann, wenige Tage nach der Geburt Brandons, empfand Kurt keinen Funken Mitleid oder seiner abgestumpften, eigenen Art von Liebe mehr. Alles, was er nunmehr fühlte war Ekel, Hass und den Wunsch, die vergangenen drei Monate zu verleugnen und zu vergessen; diese Zeit ungeschehen zu machen. Als Brandon letztendlich aus dem Brutkasten genommen werden konnte, wurde Niccy ein völlig anderer Mensch. Sie war die geborene Mutter. Sie war die Königin, die Göttin aller Mütter. Zumindest für Brandon.

       Sie blühte vollkommen auf und genoss jede Sekunde mit Brandon, wohingegen Kurt sich vorkam, als wäre er nur mehr zum nebensächlichen Familien-Geldautomaten geworden.

       Allerdings hatte ihn Niccy ohnehin schon seit ihm wirklich bewusst geworden war, dass sie schwanger war, sowieso nicht mehr sexuell interessiert. Kurt hatte, als sie sich kennen gelernt hatten, ihre Schwangerschaft seiner Liebesgefühle wegen schlicht ignoriert und sich erst wenige Monate vor der Geburt daran 'erinnert', als ihr Bauch schon merklich gewölbt war, als er es einfach nicht mehr leugnen konnte. Und gerade wegen seinem sexuellen Desinteresse und seiner Agonie gegenüber allem reichten ihm über die nächsten Jahre seine normalen Beschäftigungen, die er seit dem großen Unfall bevorzugt betrieben hatte: Arbeiten, Bourbon trinken, fernsehen und masturbieren.

       Es kümmerte ihn einen Dreck, was er alles in seinem Leben hätte erreichen können. Die Explosion hatte ihn körperlich so weit zurück geworfen, dass er jeden Ehrgeiz trotzig aufgegeben hatte. Er hatte alles, was er brauchte. Er konnte auf all dieses Gedöns von Selbstverwirklichung und Lebensverbesserung liebend gerne verzichten.

       Es ging ihm blendend.

      7

       Zumindest redete Kurt sich das bei jeder Gelegenheit ein. Die folgenden Jahre kamen ihm im Nachhinein wie Sekunden vor, da er, wie Niccys verstorbener Freund Mark, fast immer in Bars oder in der Arbeit an zu treffen war. War es Niccys Schicksal, mit solchen Männern gestraft zu sein?

       Kurt kam spät nach Hause, schlief, ging zur Arbeit und trank, kam nach Hause und schlief. Ein schöner Kreislauf, nicht wahr? Seine tägliche Dosis Unterhaltung bestand darin, auf alten, rostigen Schrottkarren herum zu hantieren, sich nach Feierabend mit seinen Kollegen in irgendeine Kneipe zu begeben, dort heftig zu betrinken und Stunden später nach Hause torkelnd Niccy besoffen und nach Zigaretten stinkend noch zu besteigen zu versuchen.

       Natürlich endeten diese Eskapaden immer in einem lauten Streit. Nachdem er am nächsten Tag auf der Couch aufwachte, torkelte er mit einem Kater, an den er sich schon erschreckend gewöhnt hatte, zur Arbeit um wieder an alten, rostigen Schrottkarren herum zu hantieren. Doch, eigentlich war er beinahe zufrieden …

       Außer wenn er sich vom vielen Alkohol stundenlang übergeben musste, weil sein Kreislauf sehr kurz davor war, lebensgefährlich zusammen zu brechen - und Kurt von einer Sekunde auf die andere im an einem Hirnschlag hätte sterben können, ohne dass es jemand wirklich aufgefallen wäre.

       Irgendwann während dieser abwechslungsarmen Phase seines Lebens, erfuhr Kurt in einem Brief der Gemeinde, dass seine Mutter einsam und allein im Haus seiner Eltern gestorben war und er herzlich zu ihrer Beerdigung eingeladen war.

       Er überflog den Brief flüchtig und nicht besonders interessiert und warf diesen darauf ungeachtet in den Müll. Mom war endlich in einer besseren Welt, was sollte er sich noch Sorgen um sie machen? Dort, wo sie jetzt war, konnte es ihr nur besser gehen, als hier. Und auch wenn nicht, wer gab einen Scheiß darum? Nun, er nicht.

       Er lebte weiterhin in seinem schönen, monotonen Tagesablauf dahin, der von Motoröl, Alkohol und Endorphinen durchtränkt an ihm vorbei zog, ohne dass er sich über Frustration, Trauer oder Schmerz Gedanken machen musste. Vor allem gefiel Kurt, dass Niccy sich seitdem den ganzen Tag mit ihrem – Niccys, nicht Kurts oder ihr gemeinsames, sondern Niccys -