Das Blut der Auserwählten. Thomas Binder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Binder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242447
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mit Klassenclown Kurt als Opfer beliebt zu werden. Wenigstens für ein paar Wochen, nach denen sie wieder als Freak galt und für sie alles wieder beim Alten war.

       Kurt flog von der Schule und musste sich somit einen Job suchen. Vielleicht wäre er ohne diesen Zwischenfall sogar weiter gekommen und hätte die Schule geschafft. Ob seine Zukunft wohl genauso verlaufen wäre, wenn ihm die Möglichkeiten für einen guten Bürojob oder gar ein College und eine Uni offen gestanden hätten?

       Nun, hier folgt Kurts Zukunft ohne Schulabschluss.

      Kapitel 4: Unbekannte Gefühle und deren Folgen

      1

       L.A., Kalifornien, 1967

      Kurt flog also in hohem Bogen von der Senior High School. Nicht, dass es ihm etwas ausgemacht oder ihn überrascht hätte, doch seine Mutter war, ohne ihm jemals etwas davon zu sagen, bitterlich enttäuscht und unglücklich darüber, dass Kurt die High School nicht geschafft hatte, selbst wenn sie die wahren Hintergründe gekannt hätte.

       Danach fing Kurt nun – da ihm offensichtlich nichts anderes übrig blieb - einen Mechanikerjob bei einem alten Freund seines Vaters an. Dessen letzter Lehrling Mark war - mit 21 Jahren, einer 19jährigen blonden schwangeren Freundin namens Niccy Patton, einem Alkoholproblem, einem schäbigen Wohnwagen und ganzen 300 Dollar in der Tasche nach Las Vegas abgehauen, um zu heiraten und das große Geld in Vegas zu machen. Wie es ja schon so Viele vor ihm geschafft hatten …

       Drei Wochen später kamen beide pleite zurück. Sie mussten per Anhalter fahren, da sie sogar Niccys Wohnmobil versetzt, aber offensichtlich nicht gerade den Jackpot geknackt hatten.

       Niccy war mit unserem Kurt zusammen auf der High School gewesen (und hatte damals wie alle über ihn gelacht), was Kurt und Niccy aber erst Wochen später herausfinden würden (als sie sich besser kennen lernen sollten).

       Daraufhin bekam Mark wieder seinen alten Job in der Werkstatt und unser Schulabgänger wurde - ohne viel dagegen tun oder sagen zu können - eine Gehaltsstufe nach unten degradiert. Kurz darauf wäre Kurt einmal fast von einer Explosion am anderen Ende der Werkstatt das Gesicht zerfetzt worden, weil irgendein Superhirn in der Nähe der Tankstelle unbedingt eine Zigarette rauchen hatte müssen.

       Offensichtlich tötet Rauchen doch wirklich …

      2

       Kurt lag im Krankenhaus. Er hatte starke Verbrennungen, vor allem am Oberkörper.

       Er erwachte dämmrig aus der Narkose. Sein Kopf fühlte sich taub an, seine Hände waren wie eingeschlafen. Seine Schultern, Brust und Arme waren dick einbandagiert, ebenso wie sein Gesicht. Er richtete sich stöhnend im Bett auf und erkannte sofort, wo er war.

       Die Bilder von damals kehrten in seinen Kopf zurück. Wie er als Kind unter all den Verrückten gehockt war, wie sie ihn allein in die Zelle gesperrt hatten. Wie kalt der Rollstuhl sich an seiner Haut angefühlt hatte - der Rollstuhl, der ihm Albträume beschert hatte, an die er sich erst seit wenigen Jahren wieder erinnern konnte. Die ewig herablassenden Blicke der Ärzte und Krankenschwestern. So viele Bilder stiegen in ihm auf, an die er sich erst jetzt erinnern konnte. Bilder, die sein Bewusstsein erst jetzt zuließ.

       Jeder Muskel in seinem Körper verkrampfte sich. Sein Magen spielte verrückt. Er bekam keine Luft mehr. Er sah alles vor sich: das Gefühl, ständig beobachtet und kontrolliert zu werden; der Drang, alle Schläuche aus seinen Armen zu reißen, alle piepsenden Automaten aus dem Fenster zu werfen, wenn sie ihn beim Schlafen störten;

       Die täglichen Rituale: Medikamente einnehmen, die man nicht kennt; Fragen beantworten, auf die man keine Antwort weiß; Ärzten zulächeln, die ihn das erste Mal besuchen, ohne sich vorzustellen oder wirklich an ihm interessiert zu sein; Ärzte, die stumm auf Datenblätter und Computerausdrucke blicken, auf ihm herum drücken und dann wortlos wieder gehen.

       Er hasste es. Er wäre aufgesprungen und ausgebrochen, wenn er nicht aus Sicherheitsgründen an das Bett geschnallt gewesen wäre, damit seine Wunden nicht wieder aufplatzen konnten. Bei jeder kleinen Bewegung spürte er den Katheder in seinen Weichteilen reiben und ziehen.

       Kurt traute keinem Arzt. Egal, wie zuvorkommend, beruhigend oder aufbauend sie auf ihn einredeten, er fand jedes Mal ein Indiz, einen Makel, mit dessen Hilfe er sich ausklinken und jegliche Gedanken an ein wachsendes Vertrauen ins Nirvana schicken konnte. Es war ein neues Spiel und er spielte es sehr gut.

       Die ewige, quälende Frage kreiste in seinem Kopf, wie schmerzvoll wohl die nächste Untersuchung der Ärzte werden würde. Operationen, Muskelaufbautherapie, Nervenreaktivierung. Wieder greifen lernen, wieder Finger bewegen lernen. Alles von Null auf, wie ein Kleinkind. Nur tausend Mal schwerer. Er ließ alles über sich ergehen, aber die Schmerzen und die Anstrengung trieben ihn bis zur absoluten Belastungsgrenze.

       Wenn er sich schreiend und verkrampfend im Bett umher wand, wie eine Raupe bei der Entpuppung, weil sich die verbrannte Haut um seinen halben Körper neu bildete und das entweder krankhaft juckte oder höllisch schmerzte, bekam er immer wieder kleine Mengen Morphium. Diese ließen ihn dann wenigstens für ein paar Stunden schlafen, in denen er sich ruhelos hin und her wälzte.

       Doch in diesen Stunden wüteten dumpfe, beunruhigende Albträume in seinem Kopf, voller Halluzinationen und wilde, ungebändigte Gefühle, die er immer unterdrückt hatte, stiegen in ihm auf. Angst machte sich in ihm breit, Angst vor seiner Vergangenheit, Phantome der Gegenwart, die in bisher unbekannten Winkeln seines Geistes herum huschten und den dort angesammelten Staub aufwirbelten.

       Er träumte, dass jemand ihm in Arme und Beine schnitt und spürte das Blut an sich hinunter rinnen, wie damals sein Vater. Er träumte davon, dass er wieder ein kleines Kind war und vor etwas hinter ihm weg lief, das ihn verfolgte. Etwas Schreckliches, vor dem er sich panisch fürchtete, ein Fleck im Augenwinkel, der unaufhörlich näher kam. Immer näher, grausam langsam, aber beständig näher. Bis es ihn erreicht hatte, an den Schultern packte, herum riss und er in das Gesicht der Kreatur sehen konnte. Doch Kurt wachte immer auf, ohne sich an das Gesicht der Kreatur erinnern zu können.

       Viele verschiedene Albträume beherrschten seine betäubten Nächte, doch die meisten hatte er noch in derselben Nacht wieder vergessen. Musste sie vergessen, wenn er nicht völlig wahnsinnig werden wollte. Er schob all das so weit an den Rand seines Bewusstseins, wie er konnte, wo er diese Visionen hoffentlich nie wieder finden würde.

       Oh, wie dumm Menschen sein konnten, wenn sie verzweifelt waren...

      3

       Kurts Mutter hatte ihn bis jetzt ein paar Mal besucht. Man merkte ihr die Sorge an dem gegerbtem Gesicht und den von Tränen aufgeweichten Augenringen an. Dies war auch der Grund, warum Kurt ihr verzieh, dass sie nicht jeden Tag vorbei kam, um ihm den grauenhaft monotonen Krankenhausalltag ein wenig vergessen zu lassen. Sie hatten nun seit Jahren ja ohnehin nicht mehr die innigste, emotionalste Bindung zueinander. Er verstand auch, dass sie ihn einfach nicht so sehen konnte, dass es ihr trotz seiner Betäubung durch die Schmerzmittel das Herz brach, ihren Sohn so leiden sehen zu müssen.

       Er verbrachte die nächsten Wochen im Krankenhaus. Laut den Ärzten würden aber noch Monate vergehen, bis er nach und nach wieder selbständig jede Aufgabe des Alltags bewältigen und jeden seiner Muskeln, die durch die Verbrennungen geschädigt wurden, wieder vollständig bewegen könne. Mindestens.

       Er konnte zwar gehen, aber seine Hände waren bei weitem noch nicht einsatzbereit. Seine Mutter, andere Patienten und Ärzte waren die einzigen Menschen, die er in dieser Zeit zu Gesicht bekam. Bis eines Tages jemand an die Tür seines Zimmers klopfte, den Kurt zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht erwartet hätte.

       Die anfangs unbekannte Person, die schüchtern durch die Tür seines Zimmers auf ihn zu getrottet kam, war Niccy Patton, seine alte High-School-Mitschülerin und Verlobte seines verstorbenen Arbeitskollegen Mark. Sie und Kurts Chef, Bob Smooler, waren damals nicht in der Werkstatt gewesen und waren somit unverletzt geblieben. Niccy schlich verunsichert auf ihn zu, sah ihn einen Moment an und legte dann mitleidig die Hand auf seine Stirn.