Das Blut der Auserwählten. Thomas Binder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Binder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242447
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er von Kurt angesprochen wurde, schließlich zu sprechen anfing und ihn Tag für Tag mehr nervte, entzündete sich erneut die verhasste Unzufriedenheit und die gnadenlose Wut in Kurt.

       Und da unsere frisch gebackene Vaterfigur ja nicht besonders gern über Probleme redete, machte er seinem Ärger anders Luft. Auf seine Weise.

      8

       L.A., Kalifornien, 1972

      Hätte man Kurts Familiensituation von außerhalb beobachtet, hätte man wohl nichts Auffälliges festgestellt - abgesehen von seinem zunehmend mürrischen Gemüt, was in Verbindung mit seinem eigensinnigen Lebensstil und der Tatsache, dass er gerade mal 22 Jahre alt war, ziemlich skurril wirken musste, da er eher wie ein brummiger, alter Großvater wirkte. Er spielte nie mit Brandon, kochte ihm nur widerwillig etwas zu Essen, wenn Niccy keine Zeit hatte und schnauzte ihn bei jeder Frage, die mehr als eine einsilbige Antwort erforderte, lauthals an.

       Und das alles, obwohl Brandon kein besonders nervendes Kind war, nie auffällig viel quengelte und sich auch längere Zeit mit sich selbst beschäftigen konnte, um seinen Eltern eine Pause zu gönnen. Es war auch nicht so, als ob Brandon Kurt wirklich mit Streichen und anderen Gemeinheiten zermürben würde, ganz im Gegenteil. Seine Mutter las ihm so oft sie konnte, etwas vor oder redete mit ihm darüber, was er in der Schule lernen würde oder tollte mit ihm herum, wobei sie natürlich Brandons Aufmerksamkeit von seinem Vater auf sich selbst lenkte. Kurt war das nur recht.

       Als Brandon bereits mit vier Jahren richtig fließend und altklug (und plappernd, wie Kurt fand) mit Anderen sprach, merkte man, dass er ein wirklich guter Schüler werden würde, der schnell verstand und immer mehr wissen wollte und der sich nichts sehnlicher wünschte, als seine Eltern stolz zu machen.

       Mussten wohl Niccys Gene sein ...

       Kurt aber konnte es nicht ertragen, wenn Brandon lang und breit vor ihm referierte, dass er schon Mississippi buchstabieren könne, oder dass er schon wisse, wo Wisconsin läge. Kurts Taktik, ihn ruhig zu stellen, bestand einfach darin, Brandon zu beweisen, dass er mehr wisse, und dass Brandon sowieso überhaupt keine Konkurrenz für ihn sei. Das Balg konnte ja so lästig sein. Kurt dachte nicht einmal daran, dass er auch einmal so jung und wissbegierig gewesen war und man ihm auch alles hatte erklären müssen.

       Kurt hielt Brandon während solchen Gesprächen dauernd vor, dass dieser doch zum Beispiel überhaupt nichts von Physik verstünde - wovon Kurt selbst gar keine Ahnung hatte - und bombardierte Brandon permanent mit herablassenden Bemerkungen, dass dieser sich doch nur wichtig machen wolle und doch von diesem und jenem ja noch keinen blassen Dunst habe.

       Was wollte der kleine Hosenscheißer überhaupt von ihm? Hing er seiner Mutter nicht schon genug um dem Hals, als dass er Kurt selbst auch noch dauernd nerven musste?

       Obwohl er es nicht wahrhaben wollte, war Kurt wirklich eifersüchtig auf den Kleinen. Einmal führte Kurt sogar Politik als ein Beispiel dafür an, wovon Brandon ja nicht einmal eine Idee hätte, da ihm bald nichts mehr einfiel. Da schoss ihm eine Erinnerung an seinen Vater durch den Kopf, er erinnerte sich an Namen von Senatoren, einen Gerichtsprozess und Bierdosen …

      9

       Zwei Wochen später brach die Krise in Kurts Kopf aus.

       Er kam, wie an jedem anderen Tag auch, betrunken nach Hause, um sich von Niccy eine Standpauke darüber an zu hören, dass er seinen väterlichen Verpflichtungen nicht im Geringsten nachkäme (obwohl sie selbst vor Brandons Geburt diesen allein aufziehen wollte).

       Oder dass sein Lebensstil (nichts als arbeiten und sich betrinken) wirklich nicht gesund sei und sie sich Sorgen um ihn mache; oder dass sie endlich mal in eine größere Wohnung umziehen könnten, wie Kurt es ihnen schon vor Monaten versprochen hätte, weil solche Umstände müsse sie sich als praktisch allein erziehende Mutter ja wirklich nicht gefallen lassen.

       Niccy entwickelte sich immer mehr zur radikalen Feministin – manchmal sogar bis zur BH verbrennenden Aktivistin. Und das mit einer wunderbaren Doppelmoral: nach außen gab sie sich zwar als die selbstbewusste, unabhängige, starke Frau und Mutter, die ihren Sohn allein aufzog und ließ sich dabei hinter geschlossenen Türen schön das von Kurt verdiente Geld in den Ausschnitt stecken.

       Viele Männer kamen mit der revoltierenden Frauenbewegung damals nicht zurecht, doch Kurt störte es nicht besonders. Er hatte alles, was er brauchte und Niccys Spiele machten ihm nichts aus, solange sie, wenn sie allein waren, die zuckersüße, liebende Ehefrau spielte, weil sie nie vorhatte, selbst zu arbeiten. Kurt empfand eine gewisse Befriedigung bei dem Gedanken, dass Niccy trotz aller Emanzipation noch immer abhängig von ihm war.

       Niccy wiederum verstand nicht, warum sie als gestresste Mutter, die nur versuchte, ihrem Kind ein schönes Leben zu ermöglichen, in solch einem Loch wohnen musste. Und warum sie als (zumindest praktisch) allein erziehende Mutter auch noch arbeiten gehen sollte, wo sie doch schon genug Verpflichtungen am Hals hatte.

       In ihr klaffte ein tiefer Zwiespalt, der ihr mehr und mehr den Verstand raubte. Einerseits plante sie, Brandon ohne fremde Hilfe – und schon gar nicht mithilfe irgendeines primitiven, chauvinistischen Mannes –, auf zu ziehen. Andererseits wollte sie nicht akzeptieren, dass Kurt keinerlei Interesse hatte, sich um seinen Sohn zu kümmern.

       Alles, was Niccy wollte, war etwas mehr Platz und einen Mann, der sich um sie sorgte und nach ihrer Pfeife tanzte, wie sie es wollte. Der sie verstand, der sie achtete. Aber dass er nach ihrer Pfeife tanzte, das war das Wichtigste. Ein Mann, der für sie alles tat, was sie sich gerade in den Kopf gesetzt hatte. Sie hatte es immerhin verdient. Zumindest ihrer eigenen Meinung nach.

       Natürlich machte sie sich auch genauso Sorgen um Kurt, wie sich seine körperliche Verfassung entwickeln würde, wenn er noch lange so weiter machte. Jedoch nicht in erster Linie wegen Kurt selbst, sondern mehr, weil sie dann den größten Teil ihrer Existenzsicherung verlieren würde. Trotz ihrer Unzufriedenheit verspürte sie noch immer etwas Ähnliches wie Liebe zu ihm, wie eine dankbare, aber trotzdem entfernte Freundschaft für seine Hilfe in ihrem härtesten Lebensabschnitt.

       Sie war wirklich dankbar, irgendwie.

       Einiges davon, was in Niccy vorging, spürte Kurt, anderes konnte er nicht sehen. Er wusste nicht, wie oder warum er es spüren konnte, aber das änderte nichts. Er glaubte, er konnte sich nie besonders gut in die Gefühlslage anderer versetzen - er tat sich ja mit seiner eigenen schon schwer –, was aber ganz und gar nicht zutraf. Er hatte ganz im Gegenteil zum Beispiel einen Instinkt dafür, wenn ihn jemand belog, nur tat er diesen Instinkt immer als Einbildung ab.

       Aber egal, welche Gefühle sie für ihn hegte, Niccy würde bezahlen. Egal, ob es für ihre Respektlosigkeit ihm gegenüber, für ausgleichende Gerechtigkeit (natürlich nur Kurts subjektive) oder für rein gar nichts war, aber Kurt war sauer. Brodelnd sauer. Er wollte Blut. So konnte er nicht weiter machen.

       Sie würde dafür bezahlen.

      10

       Zuvor waren schon zahllose dieser mühsamen, monotonen Streitepisoden zwischen beiden friedlich abgelaufen. Doch nicht heute.

       Kurt war diese leeren Anschuldigungen leid. Er war es leid, diesen abfälligen Ton in der Stimme eines Menschen zu hören, dem er freiwillig geholfen hatte. Von dem ersten Menschen, dem er jemals in seinem Leben geholfen hatte.

       Gerade als Niccy wieder einmal voll in Fahrt war und ihn hasserfüllt anschrie und Kurt im gepolsterten Fernsehsessel saß, eine halbleere Bierdose in der Hand haltend, heulte plötzlich in seinem Kopf eine Sirene auf.

       Er sprang unvermittelt in ihrem Gekreische auf, starrte sie verständnislos an und begann selbst, um vieles lauter, zu schreien. Alle aufgestaute Wut, alle geschluckten Gegenargumente, der ganze Hass; alles, was er sonst immer brav aus seinem Bewusstsein gedrängt hatte, wovor er all die Jahre weg gelaufen war, sprudelten in einem schädelspaltenden Schwall auf einmal durch sein Gehirn. Raus. Alles muss raus.

       Kurt brauchte nur eine Viertelsekunde, um seine Gedanken zu ordnen und traf sie so hart, als hätte er ihr mit einem glühenden Schürhaken das Herz durch stoßen und drehte