Der Franzose würde, sobald er wieder genesen war, in sein Heimatland zurück kehren und wohl, nach eigener Aussage, nie mehr wieder nach „Scheiß-Amerika“ kommen. Er hatte Kurt schon längst vergessen und war nun viel mehr mit seinen schmerzenden Gliedmaßen beschäftigt.
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Kurts Selbstmordversuch wurde ein paar Tage später schulweit bekannt und brachte Kurt nur weitere Demütigungen seiner Mitschüler ein. Sie stempelten Kurt mehr denn je als schwach und feige ab, während seine Lehrer ihn für einen prädestinierten, unfähigen Verlierer hielten - der er ja eigentlich auch war. Wie wollte er nur so den Abschluss schaffen?
Kein einziger seiner Lehrer empfand auch nur den geringsten Respekt oder Verständnis für Kurt. Nicht, dass er durch sein destruktives, gleichgültiges und rebellisches Benehmen etwas anderes erwarten durfte, doch...
Er war zwar Teil der Klasse und tat nichts wirklich Böses, außer sich zu wehren, doch niemand hätte ihn vermisst, wenn er irgendwann zufällig verschwunden wäre.
Kurt nahm die Gefühle aller Parteien irgendwie unterschwellig wahr, spürte sie förmlich. Was sie alle über ihn dachten: seine Mitschüler, von denen manche ihn gar nicht verprügeln wollten, sich aber dazu durch die anderen gezwungen fühlten; seine Lehrer, die ihn loswerden wollten, weil er dem Schul-Image schadete, ihn aber nicht guten Gewissens aufsteigen lassen konnten; seine Mutter, der zwar die Kraft und der Wille fehlte, um ihn allein groß zu ziehen, doch die einfach so lange weiter machte, wie sie konnte (und das weniger deswegen, weil sie ihn liebte, sondern weil sie es als ihre elterliche Pflicht ansah);
Unnötig zu sagen, dass Kurt sich in dieser Umgebung dementsprechend wohl fühlte und gesund aufwuchs. Total wohl.
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Aber irgendwie schaffte er es letztendlich doch zwei Jahre später mit viel Mühe, der Angst der Lehrer, einen weiteren Skandal herauf zu beschwören und einer damit verbundenen, offiziellen 'Hilfestellung' bei potenziellen Problemen – dazu später mehr.
Natürlich bedeutete dies nicht gleich eine ruhmreiche, glamouröse Schulkarriere für Kurt, doch immerhin flog er nicht geradewegs von der Grundschule – was seine Mutter wohl in ein sehr frühes Grab gebracht hätte.
Doch Kurt machte sich nicht viel Gedanken über seine Zukunft, sondern ließ sich lieber unbeteiligt durch sein Leben bis zum gerade noch erfolgreichen Abschluss tragen, wie sonst auch immer.
Er würde nicht mal in seinen wildesten Träumen erahnen können, wie seine Zukunft aussah.
Kapitel 3: Der Druck des Wachsens
1
L.A., Kalifornien, 1962
Kurt war also irgendwie als Zwölfjähriger mithilfe eines unverdient hohen Notendurchschnitts von seinen Lehrern in einstimmigem Beschluss durch die Junior High School gedrückt worden. Höchstwahrscheinlich nur, um ihn möglichst schnell los zu werden. Dies würde am Unauffälligsten funktionieren, wenn er ohne durch zu fliegen mit mittelmäßigen Noten graduierte. Er musste wegen zahlreichen Schülerstreichen, obszönen Zwischenrufen während des Unterrichts und anderen ähnlichen Ausbrüchen von Jugendrebellion ständig nachsitzen und fiel bei den Aufsichtslehrern immer wieder gewalttätig auf, was sich jedoch rätselhaft in keinster Weise auf seine Noten auswirkte.
Vielleicht gerade deswegen hatte er nunmehr von seiner Mutter, seinen Lehrern, mehreren Schulpsychologen und sonst wem permanent den Druck im Nacken, gerade jetzt vor dem Abschluss ja nicht zu versagen. Realistisch gesehen, konnte dies zwar sowieso nicht geschehen, da ihn die Lehrer ohnehin decken würden, aber natürlich weihten sie Kurt nicht in ihren Plan ein. Irgendwie mussten seine angeblichen Leistungen ja glaubhaft wirken. Also musste man ihm die Anspannung und den Stress nichtsdestotrotz ansehen können, auch wenn seine eigenen Fortschritte weit unter denen seiner Mitschüler lagen.
Kurt war es eigentlich gleich, ob er bestehen oder raus geschmissen wurde und doch pulsierte in seinem Hinterkopf eine enorme Nervosität, wenn er an die Zukunftsprognosen seiner Mutter dachte, sollte er die Senior High School nicht schaffen. Er würde als abgewrackter Penner in der Gosse enden, die gesamte Gesellschaft würde auf ihn herab sehen und er würde traurig, unzufrieden und alleine in der Gosse sterben. Das ständige Nörgeln und die passiv-aggressive Bevormundung seiner Mom spalteten Kurt den Schädel.
Er konnte in seinem Alter nicht wissen, was für eine Bürde sein Leben und seine Zukunft für seine Mutter darstellten – und zwar nicht deswegen, weil sie ihm nur äußerst wenig Selbständigkeit zutraute, sondern weil sie ihn wirklich bedingungslos liebte und aufrichtig um sein Wohlergehen besorgt war.
Abgesehen davon zerbarst Kurt fast das Herz vor lauter Wut darüber, dass er es einfach nicht besser konnte, dass er einfach nicht der Hellste war. Er hätte sich ja selbst angestrengt, seiner Mom wegen, wenn sie ihm nur ein bisschen vertrauen würde. Trotz seiner sichtbaren Lernschwächen und daraus resultierender Prüfungsangst schaffte Kurt es letztendlich doch, gerade so zu bestehen – natürlich mit der geheimen 'Hilfestellung' aller Lehrer im Hintergrund.
Vielleicht wäre er ein guter Schüler geworden, hätten seine Voraussetzungen nur etwas anders ausgesehen.
Doch so wurde er von Kurs zu Kurs geschubst und musste Dinge absolvieren und lernen, die seine Mutter für besonders wichtig und essentiell im späteren Leben hielt, wie Finanzmathematik oder Hauswirtschaft. Dinge, die einen jungen Teenager ohne besondere Begabung also nur zu sehr interessierten.
Also stieg Kurt nun deprimiert, lustlos, gleichgültig und wütend – wie er es eben immer getan hatte - nach seinem lächerlichen Abschluss der Junior High in eine neue, fremde Senior High School ein. Als Freshman durfte er gleich einmal die überaus erniedrigenden Aufnahmerituale genießen.
Das dauerte normalerweise etwa eine Woche. Kurt würde die ganzen vier Jahre lang gehänselt, verhauen und angelogen werden. Es sollten unzählig Viele kommen, die sein Selbstwertgefühl dauerhaft untergraben würden. Das war auch der Grund dafür, dass seine ziellosen Rachegefühle still und leise vor sich hin wuchsen und auf ihre Entladung warteten.
2
L.A., Kalifornien, 1966
Die nächsten vier Jahre vergingen für unseren dumpfen Helden an der Senior High recht ereignislos (zumindest für Kurts abnormales Leben) und er verspürte nicht den Anflug einer Veränderung in dieser Zeit. Er rutschte immer knapp durch die Kurse, die Jungs hänselten und schlugen ihn, die Mädchen lachten ihn aus – mittlerweile direkt, nicht mehr heimlich. Alles wie gehabt.
Der nun sechzehnjährige Kurt war das Paradebeispiel eines Verlierers, was er meistens mit einer hilflosen Ruhe über sich ergehen ließ, dass die meisten bald keinen Spaß mehr daran hatten und für den Tag von ihm abließen. Allerdings gab es da einen Schulkollegen, der Kurt überhaupt nicht schlagen wollte.
Ihr Name war Jennifer - oder Jen - Whitfield. Sie hasste es, Jenny genannt zu werden. Sie ging in ein paar gleiche Kurse wie Kurt und galt als derselbe Freak wie er, obwohl, oder vielleicht sogar weil sie eigentlich ein sehr intelligentes Mädchen war. Und überaus frühreif, beinahe erwachsen, aber eben nur beinahe.
Trotzdem war sie bei den Mädchen relativ beliebt, da die anderen immer wieder Gelegenheit fanden, sich an Jens kleinen Mängeln die Lippen blutig zu tratschen. Es ging dabei vorrangig um die Art von Mängel, die jemanden überhaupt erst menschlich erscheinen lassen, im Gegensatz zu diesen leeren, langweiligen Cheerleader-Hühnern.
Jen fand irgendetwas an Kurt, was sie zwar verwirrte, aber dennoch; sie wusste selbst nicht genau, was es war. Es fühlte sich irgendwie gut an, wenn sie Kurts Blicke über ihren Körper huschen bemerkte. Anfangs war es ihr noch