Kurt: „Naja, bei jeder zweiten Bewegung fühl' ich mich, als würde mich ein ganzer Staat von giftigen Ameisen irgendwohin beißen, aber es wird besser. Hoffe ich wenigstens.“ Er lächelte hilflos.
Niccy: „Schön zu hören. Ich weiß nicht, ob du jetzt gerade nicht schon beschäftigt genug bist, aber ich wollte dich fragen, ob du zu Marks Begräbnis kommen möchtest. Ich habe die erste Zeit für mich gebraucht, um das alles zu verarbeiten, deswegen ist die Trauerfeier erst so spät. Ich würde mich freuen, wenn du kommen könntest.“
Und obwohl Kurt an jedem anderen Tag jedem anderen Menschen wohl lauthals ins Gesicht gelacht hätte, sagte er zu.
Nicht wegen Mark. Er hatte den Typen nicht mal richtig gekannt, obwohl sie so lange zusammen gearbeitet hatten. Ob er es aus aus Freundschaft, aus Mitleid oder aus aufgestauter Sexualität für Niccy tat, darüber war er sich nicht sicher, aber er sagte höflich zu und kam pünktlich dort an. Zwar nur in schwarzem Rollkragenpullover und Jeans, aber er kam und trauerte.
Als die Zeremonie vorbei war und Kurt schon ein Taxi rufen wollte, tippte ihn jemand auf die Schulter: Als er sich umdrehte, stand Niccy vor ihm.
Niccy: „Hey, danke, dass du wirklich gekommen bist. Das bedeutet mir viel, wirklich. Hör zu, hast du noch ein bisschen Zeit? Jetzt, wo das alles vorbei ist, fühl' ich mich echt hundeelend und ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden kann. Kannst du nicht noch ein wenig hier bleiben? Bitte!“
Da Kurt jegliche Beschäftigung als angenehmer empfand, als sofort ins Krankenhaus zurück zu gehen, dort herum zu sitzen und auf die Nachmittagstherapie zu warten, blieb er bei ihr. Sie setzten sich in ein Café und Niccy sprudelte nur so los, wie sie es sonst nie getan hatte – sie war sonst immer ein sehr zurück haltendes Mädchen gewesen.
Niccy: „Weißt du, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Mark war die Liebe meines Lebens, wir haben unsere gesamte Zukunft miteinander geplant und jetzt ... jetzt das. Außerdem weiß ich nicht, wo ich jetzt auf die Schnelle einen Job herkriegen soll, damit ich nicht aus unserer Wohnung fliege. Und das Dickste kommt erst noch: ich bin von Mark schwanger.“
Ihr standen Tränen in den Augen, die sie zu unterdrücken versuchte, doch sie beruhigte sich nach wenigen Sekunden wieder.
„Ich hab' keine Ahnung, wie ich weiter machen soll! Kannst du mir irgendwie helfen? Ich weiß wirklich nicht mehr weiter.“
Kurt sah sie ausdruckslos an, ohne zu antworten.
„Aber, es tut mir leid, ich quatsche dich hier mit meinen beschissenen Problemen voll und langweile dich und du hast gerade sowieso selbst genug um die Ohren...“
Da klickte es in Kurts Hirn. Er spürte zum ersten Mal seit vielen Jahren, eigentlich fast zum ersten Mal in seinem Leben, so etwas wie Mitleid und Hilfsbereitschaft in sich aufsteigen. Er wollte Niccy wirklich helfen. Das war neu, ungewohnt. Er wusste nicht, warum, aber irgendwie fühlte es sich gut an ...
Niccy sah ihn mit noch immer feuchten Augen an und als sie schon aufspringen und weinend wegrennen wollte, hielt Kurt sie am Arm fest und ... umarmte sie. Kurt, der sein halbes Leben nur Prügel, Enttäuschungen und Wut erlebt hatte, wurde zum empfindsamen, hilfsbereiten Psychotherapeuten. Wo er bis heute nur seine Aggressionen an unbelebten, materiellen Dingen ausgelassen hatte, wollte er plötzlich helfen. Jemand Anderem helfen. Er konnte selbst nicht glauben, was er gerade tat.
Erst wehrte sich Niccy gegen seine Umarmung, dann wurden ihre wütenden, traurigen Schläge auf seine Oberarme schwächer und hörten bald ganz auf. Plötzlich war Kurt der, der Wut bekämpfte, anstatt sie selbst aus zu üben. Niccy schloss ihrerseits ihre Arme um Kurt und alles, was sich in ihr aufgestaut hatte, brach plötzlich in einem einzigen Schwall aus ihr heraus. Sie ließ Kurt los und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, noch immer in seinen Armen.
Sie verharrten viele Minuten so, bis Niccy sich wieder beruhigt hatte. Dies sollte das erste von bald regelmäßigen Treffen zwischen Kurt und Niccy sein, bei denen sie ihren Frust gegenseitig mithilfe des Anderen bewältigten.
4
Niccy besuchte Kurt immer häufiger im Krankenhaus, half ihm beim Training und sie redeten über Gott und die Welt. Sie lernten sich immer besser kennen, erkannten einige gemeinsame Ansichten und Interessen, die sie in der High School nie festgestellt hatten. Sie saßen in Gärten, auf Parkbänken, in Cafés, im Kino, in Bars. Kurt erzählte ihr über seine Kindheit, seine Familie, ihre gemeinsame Schulzeit, wie er verprügelt wurde und stellte mit jedem Mal, wenn er darüber redete, sicherer fest, dass ihn diese Dinge weniger schmerzten. Sie machten neuen, unbekannten Erkenntnissen Platz, rückten weiter in den Hintergrund. Schon eine kleine, unscheinbare Berührung von Niccy dämpfte alle schlechten Erinnerungen.
Sie erzählte ihm ihrerseits ihre Erfahrungen nach der Schule, wie sie mit Mark zusammen gekommen war, wie sie sich eine Zeit lang nur gestritten hatten und sie vor Kummer beinahe ausgerissen wäre, wie sich wieder alles eingerenkt hatte, wie sie nach dem Abschluss keine Wohnung gefunden und nach der Pleite in Vegas monatelang in Marks Cadillac gewohnt hatten.
Wochen vergingen. Kurt hatte Niccy mittlerweile bei Smoolers Werkstatt in der Verwaltung untergebracht, als Buchhalterin. Er selbst konnte noch nicht arbeiten, Smooler hatte bereits zwei andere Mechaniker eingestellt, hatte Kurt aber versichert, dass sein Platz dort sicher wäre, sobald er wieder körperlich einsatzfähig sei. So konnte sich Niccy wenigstens vorübergehend über Wasser halten und Kurt musste auch nicht um seine Existenz bangen.
Niccy und Kurt sahen sich immer regelmäßiger. Eines Abends, saßen sie in einem Restaurant bei einer Flasche Wein. Kurt hatte sich schon gut erholt und musste nur noch selten zur Kontrolle ins Krankenhaus. Sie sprachen über ihre Zukunft, Niccy meinte, sie wolle eine Ausbildung als Therapeutin beginnen, wolle Menschen helfen, die sich nicht selbst helfen konnten. Das hatte sie durch Kurt erfahren. Sie meinte es wirklich ernst, es lag ihr sehr am Herzen. Kurt berührte, ohne weiter darauf einzugehen, zärtlich ihren Hals mit seiner rechten Hand und küsste Niccy.
Sie wehrte sich nicht im Geringsten.
Nach dem Kuss waren beide erst sehr verlegen und unsicher, weshalb Niccy schnell das Gesprächsthema auf das erste Thema lenkte, das ihr einfiel: Mark, passenderweise.
Niccy erzählte, sie wäre am Tag der Explosion beim Frauenarzt gewesen und hätte danach lange über eine Abtreibung – die Methode war zu diesem Zeitpunkt noch unerprobt, oft gefährlich und sehr schmerzhaft – nachgedacht, und sich letztlich dagegen entschieden. Sie hatte dieses Kind wirklich haben wollen und wollte Mark fragen, wie er dazu stand.
Stunden davor war sie mit schwerem Herzen und unschlüssigem Kopf durch die Stadt gewandert, auf der rastlosen Suche nach einer Antwort, die sie schließlich fand, als sie eine Frau mit ihrem fünfjährigem Kind an der Hand an ihr vorbei spazieren sah, zu einem kleinen Park hin und das Kind mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen lachend auf Niccy zugelaufen kam und sie umarmte, ohne sie überhaupt zu kennen.
Daraufhin hatte sie sich mit hüpfendem Herzen, noch immer das Kinderlachen im Ohr, ohne viel weiter darüber zu grübeln, auf den Weg zu Marks Arbeit gemacht. Trotz ihrer wunderschönen Eingebung – die sie für sich als Schicksal einordnete – hatte sie ein unruhiges, unbehagliches Kribbeln in der Magengegend, wie eine böse Vorahnung.
Kurz bevor Niccy die Werkstatt betrat, fegte sie die Druckwelle einer Explosion – die aus einem hinteren Raum des Gebäudes kam - von den Füßen. Die Explosion, die von einer Zigarette ausgelöst wurde, die irgendein Vollidiot direkt neben einem vollen, offenen Benzintank geraucht hatte. Sie wurde zwar nicht körperlich verletzt, doch die folgenden Ereignisse rissen eine tiefe, klaffende Wunde in ihr Herz, die sich bis zu ihrem eigenen, tragischen Tod nicht schließen sollte.
5
Das oben genannte Superhirn, der Verursacher der Explosion, war ironischerweise Niccys Freund - oder somit Ex-Freund Mark selbst - und diese Gedankenlosigkeit kostete ihm das Leben.
Manche sagten, er habe es verdient, andere, sie hätten ihn nie wirklich