Auf der Suche nach dem Ich. Eva Link-Nagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Link-Nagel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746769684
Скачать книгу
Wände des Abgrundes, der zwischen uns war, könnten mit dem abgrundtiefen Egoismus in deinem Gedicht, ausgekleidet gewesen sein, wenn es nicht eher Angst gewesen wäre. Hoffnungslos verliebt sein, das ist meine Beschäftigungstherapie. (Therapie deshalb, weil ich irgendwann genug davon kriegen werde.) Meine Tränen stehen zurzeit niedrig im Kurs, weil ich in ihnen zu baden pflege, melancholisch und spöttisch zugleich.

      08.09.76

      Meine türkische Freundin hatte mit ihren Freund Schluss gemacht, weil sie Türkin bleiben wollte. Das gibt mir zu denken. (Was bin ich? Wie habe ich mich verhalten?) Irgendwie ist es doch so, dass wenn man den Eindruck hat, das Leben biete einem nichts, so muss man etwas selbst dem Leben bieten. Der Appetit kommt mit dem Essen. Ich glaube es ist zum Teil auch die deutsche, insbesondere die Ulmer Atmosphäre, die bedrückend ist. Ulm ist eine Möchtegern-Stadt, nämlich ein unzufriedenes Dorf, lauter ängstliche Kleinbürger, lauter Unzufriedenheit und Unbefriedigung. Es gibt keinen Status quo, kein Selbstbekenntnis. Die Deutschen haben es schwer. Immerhin spielt der geschichtliche Aspekt auch eine Rolle. Nach einem verlorenen Krieg berauscht man sich am reibungslosen Funktionieren der Technik. Die neue Generation ist aus dem geschichtlichen Zusammenhang vollkommen herausgerissen und hat quasi das einzige Betätigungsfeld, die Möglichkeit der Revolution, gegen die Eltern, die ihnen alles bieten wollen, was als Fluchtreaktion zu verstehen ist.

      Ich habe bereits verschiedene Wege eingeschlagen um dieser Situation zu entgehen, denn ich habe immer die Problemseiten ignoriert. Es ist jetzt eine rein ästhetische Verteilungsfrage, wie ich den Rahmen, die ich habe, mit Problemkonfrontation und Problemignorierung ausfülle. Laci hat gesagt, emotionelle Reife bestünde in der Konfrontation mit den Problemen (also weder ignorieren noch rationalisieren). Habe ich die Fähigkeit über das sogenannte wesentliche zu reden? Ich wage hinzufügen, dass ich wohl, wie Mutter sagt, Angst vor mir selber habe. Insgesamt etwas widersprüchlich.

      Das Bodenlose existiert nur in Reflexion.

      Meine Person, mein Wesen ist dasselbe geblieben, die Probleme - zumindest die persönlichen - also die Ängste. Eine zum Beispiel lässt sich auch so formulieren, etwas könnte mir entgehen (Meinem Verständnis, meiner Person?). Dabei hat mich gerade das Plakat der Sparkasse, mit dem Abbild eines Vamps von Frau, die in Sprechblase äußert, sie ließe sich nichts entgehen, so ziemlich abgestoßen.

      Man könnte sich z.B .auch über Reklamen auslassen, indem ich über sie lache, aber man könnte sie auch ernst nehmen, man könnte sich verlieren in ihre Psychologie. Es gibt genug Leute, die Gewalt über mich ausüben, ich brauche es nicht auch zu tun, also nehme ich die Reklame nicht ernst.

      Terror auf Taubenfüßen

      Kennst Du den Terror auf Taubenfüßen,

      Der Dich Tag und Nacht umschleicht,

      An den wir unsere Freiheit einbüßen,

      Der nicht von unsrer Seite weicht?

      Ich meine nicht die Attentate,

      Menschenraub und Untergrund,

      Viel eher sind es Apparate,

      Wie Fernsehen, Radio, Kitsch und Schund.

      Jeder brave Bürgersmann

      Zieht nach Feierabend

      Seine Filzpantoffel an;

      Das Fernsehen sei erlabend.

      Wann hat er den letzten Film gesehen

      Ohne Gute und Böse

      Der Sinn - er muss es sich eingestehen

      Verschwindet zu oft im Getöse.

      Ist nur sein Stress in der Arbeit schuld

      Dass er scheint zu vermissen

      Mancher Geliebten Liebeshuld

      Und des Helden Gewissen?

      Geistert nur des Bosses Rüge

      In seinem Kopf herum

      Wenn er glaubt,

      dass der Schein ihn betrüge

      Und er plötzlich schaltet den Fernseher stumm?

      Doch siehe da, so ganz ohne Ton,

      Auf Stummfilmart, ganz leise,

      Schleicht der Terror ganz sachte davon

      Das Fernsehen scheint mondgleich und weise.

      So ist doch alles relativ

      Der Alltag ruft ganz stille

      Bürgersmann schläft nun fest und tief-

      So ist es Gottes Wille.

      21.10.76

      F. durch deine überdrüssigen Zärtlichkeiten, hast Du mich verwirrt.

      Ich bin imstande mich mit der ganzen Welt zu identifizieren. Ich tendiere zum Herdenmenschen, stehe nicht gern allein da. Ich bin nicht nur stark darin, mich mit anderen zu identifizieren, sondern auch darin, mit ihnen in Opposition zu treten Ich fixiere meine Gedanken schriftlich in der Hoffnung, ihnen damit ein Ende zu bereiten.

IMG_0561

      30.10.76

      Zusammenfassende Definitionen.: Liebe: Bin ich liebesfähig? Ich hoffe doch. Meine Beziehung zu Che, ob da wohl ein wenig Liebe dabei ist? Ehe: Möchte ich heiraten? Natürlich nicht jetzt, aber überhaupt? Kann ich mir vorstellen Jahrzehnte mit einem Menschen zusammenleben? Beruf: Von meinem zukünftigen Beruf erhoffe ich Befriedigung. Ich möchte anderen Menschen helfen. Autorität: Ich habe mich immer einer guten Beziehung zu Autoritäten befleißigt, jetzt lässt das etwas nach. Angst: klein und schleichend. Schuld: Der Begriff macht mich stutzig. Ich habe mich mit ihm lange nicht mehr auseinandergesetzt. Hoffnung: Optimismus ist mir sehr wichtig. Möchte auf jeden Fall optimistisch bleiben. Freude: Sport macht mich mehr Freudenfähig. Ein durchaus angenehmes Gefühl. Sorge: Ich möchte gesund bleiben und abnehmen. Sehnsucht: Israel? Beides eine zweifelhafte Angelegenheit. Leid: Krankheit. Kampf: Gehört zum Leben. Ist etwas Schönes, - wünschenswert in gewisser Hinsicht. Glück: Dauert meistens nicht zu lange. Macht: Da bin ich einfallslos. Andere haben Macht über mich oder wollten sie haben. Ich werde nie etwas mit Macht anzufangen wissen. Fehler in mir selbst, Hauptprobleme: fehlende Selbständigkeit, und Selbstwert. Symptome: Unsicherheit, Gehemmtheit. Zeitweise bin ich mit mir selbst etwas unzufrieden. Diese Feststellung erzeugt in mir Unbehagen. Mit den Therapeuten haben wir vereint, dass ich mehr Geduld mit mir selbst haben sollte. In der letzten Sitzung ist herausgekommen, dass ich meiner Mutter gegenüber immer noch etwas ambivalent bin. Einerseits würde ich Distanz wollen, anderseits würde es mich stören, wenn ich mich nicht mit meiner Mutter identifizieren kann.

      29.03 1977

      Es ist komisch: Zum ersten Mal befällt mich ein einigermaßen „brauchbarer“ Aktivitätsdrang, das heißt, ich stehe um elf Uhr nachts auf, bin hellwach und zum ersten Mal, seit sehr langem habe ich das Gefühl, dass es im meinem Kopf intensiv gearbeitet hat.

      Das Ergebnis meiner Denkarbeit war, dass ich festgestellt habe, dass ich mich von meinem früheren Ich distanziert habe, dass ich mit vielem, was ich damals tat und wovon ich damals überzeugt war, nicht mehr identifizieren könnte, insgesamt ist es ein Gefühl des farblos geworden seins. Ich habe festgestellt, dass das eine Angst vor der Anonymität ist.

      Ich erinnere mich an die Warnung, den Faden nicht zu verlieren, etwas, was ich allerdings laufend tue. Ich habe keinen „Faden“ und es ist meine Aufgabe mir einen zu spinnen und mich an ihm zu halten. Ich darf mich nicht auflösen. Ich möchte ein kompaktes Etwas, oder besser gesagt Jemand sein, der seine Einstellung und Flexibilität hat und zu Aktion befähigt ist. Ich muss meiner Freiheit gewahr werden und sie genießen lernen. Vielleicht wird es in Ulm leichter sein. Wovor ich mich fürchte, ist meine Zeit nutzlos zu verbringen.

      Dieses Haus bietet keine Rückzugsmöglichkeit, oder ich habe von einer solchen