Auf der Suche nach dem Ich. Eva Link-Nagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Link-Nagel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746769684
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ein Gesicht an meine Kindheit erinnerte. So hatte ich Gisela kennen gelernt. Bei der ersten Begegnung hatten wir uns einfach länger in die Augen geschaut und schon war der Kontakt hergestellt. Gisela war auf der Suche nach einer Bleibe, und ich lud sie ein, bei uns in unserem Mansardenzimmer zu wohnen. Ich wusste nicht wirklich, was sie über mich dachte, machte mir damals aber wohl keine Gedanken darüber. Gisela war älter und reifer als ich und selbstbewusster. Meine Mutter meinte, dass sie mich ausnützte und mich gegen sie aufhetzte. Ich wollte das nicht wahrhaben. Doch als ich krank wurde, bezeichnete ich sie als eine Hexe.

      Mit dem Hexe-Sein hat es so etwas auf sich gehabt. Als ich vier Jahre alt war, behauptete ich von mir selbst, ich könne zaubern, sei also eine Hexe. Die Situation, die dazu Anlass gegeben hatte, war die: Ich schaute durch das Fenster in einen dunstigen Tag hinaus. Die Sonne erschien mir als großer feuriger Ball. Ich hatte das Gefühl, jetzt, in diesem Moment, müsse die Sonne verschwinden. Aber sie blieb. Und das führte mich zu der Überzeugung, dies hätte ich bewirkt. Es war wie im Märchen. Aber Strafe musste sein: Deshalb war ich eine Hexe.

      Gisela als Hexe tituliert zu haben, gab Zeugnis ab von meiner Nähe zu ihr, aber auch von meinem Befremden ihr gegenüber. Gisela war sehr von den Anthroposophen begeistert. Sie nahm mich einmal zu einem Vortragsabend mit. Aber ich konnte mich für die Anthroposophie nicht so recht erwärmen. Die Verehrung für Rudolf Steiner hat mich ziemlich befremdet und auch die Theorien, die mir vorgestellt wurden, kamen mir suspekt vor. Ich war ein nüchtern denkender, naturwissenschaftlich orientierter Mensch und war nicht gewillt, mich mit abstrusen Dingen zu beschäftigen.

      Auch Giselas Begeisterung für die Anthroposophie führte zur Entfremdung zwischen uns beiden. Auf der anderen Seite wollte Gisela in eine Wohngemeinschaft ziehen und begab sich auf die Suche nach einer passenden Wohnung. Sie unternahm den ersten Versuch, sich von uns abzunabeln.

      Ich war sehr begeistert von der Idee, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen. Dabei hatte ich meiner Großmutter hoch und heilig versprochen, niemals in eine Kommune zu gehen. Auch meine Eltern waren sehr dagegen. Ich ließ aber nicht locker und begann schon emsig, mir eine primitive Möblierung zusammen zu zimmern: Einen Schreibtisch fand ich in einem alten, verfallenen Schuppen, ein Schrank war auch irgendwie dazu gekommen und ein Bett wollte ich mir aus Obstkisten zusammenbauen.

      Offenbar wollten die Leute, mit denen ich (bzw. Gisela) zusammenziehen wollte, nicht so recht einsehen, warum ich zu ihnen zog, und so teilte man mir mit, dass das Zimmer, in das ich einzuziehen gedachte, ab Herbst für jemand anders reserviert sei. Ich war offenbar nicht in der Lage, daraus meine Konsequenzen zu ziehen, war nicht weitsichtig genug. Ich spürte nur irgendwie, nicht so recht akzeptiert worden zu sein, aber das war für mich kein seltenes Erlebnis.

      Auch sonst war ich eher dem Frühling und den Frühlingsgefühlen hingegeben. Ich hatte mich in einen Arzt verliebt. Er wird um die dreißig gewesen sein, ich beinahe halb so alt. Meine Mutter hatte gemeint, wer mit dreißig noch nicht verheiratet sei, hätte Schwierigkeiten mit den Frauen. Ich wollte das alles nicht wahrhaben, beschäftigte mich damit, dass ich wie eine Auster sei und er das Sandkorn, das in die Auster gelangt und wie edel meine Gefühle seien, die aus unserer Liebe eine Perle machten.

      Ich hatte schon ziemlich Angst vor der sexuellen Begegnung. Keine Frage, dass dieser Arzt schließlich mit der Feststellung, wir seien zu verschieden, von mir Abstand genommen hat. Sicher hatte ich ihm anfangs gefallen und auch meine schnippischen Bemerkungen dürften das ihre getan haben. Aber das war nur oberflächlich, und als ich das Ganze ernst zu nehmen begann, war ihm wohl aufgegangen, wie schwierig ich sei.

      Unterdessen ging der Lehrbetrieb an der Universität weiter, und ich nahm nur bruchstückhaft daran teil. So wurde mir auch bekannt, dass der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagte, dass alles dem Chaos entgegenstrebe. Der Gedanke, selber vom Chaos überrollt zu werden, ängstigte mich. In den Gesprächen, die ich mit Bekannten führte, verlor ich oft den Faden. Manchmal war mein Redefluss nicht zu stoppen, so dass ein Kommilitone mich einmal scherzhaft fragte, wo denn der Knopf sei, an dem man mich abstellen könne. Wenn ich mich unter vielen Menschen befand und eigentlich gar nicht zuhörte, was geredet wurde, hatte ich das Gefühl, man rede über mich.

      Mai 1975.

      Meine Eltern wollten mich für eine Weile aus dem Universitätsbetrieb herausholen und mit mir drei Wochen Urlaub in Südfrankreich verbringen. Ich war dagegen, mein Studium zu unterbrechen und sah auch nicht ein, dass ich erholungsbedürftig sei, gleichwohl schickte mich meine Mutter mit ihrer Mitarbeiterin in die Stadt, damit ich mich für meinen Urlaub einkleidete. Diese Laborantin war alleinerziehende Mutter, beziehungsweise, an die Einzelheiten erinnere ich mich nicht, sich von ihrem Mann scheiden ließ, weil er Alkoholiker war. Sicher hatte diese Frau eine sehr starke Persönlichkeit und sie hat mich für sich eingenommen.

      Als wir mit der Straßenbahn in die Stadt fuhren, fühlte ich mich komisch, hatte Seestörungen und phantasierte, ich würde bei ihr bleiben und einen Ersatzvater für das Kind abgeben. Während wir in der Stadt einkauften, hatte ich ein seltsames Gefühl, als ob ich der Mittelpunkt der Welt sei, als ob sich alles um mich drehen würde. Die Laborantin lud mich ein, zu ihr nach Hause zu kommen. Auch an ihrer Haustür hatte ich ein seltsames Erlebnis. Wir begegneten einem Dackel mit seinem Herrchen. Der Dackel schaute mich ganz traurig an, und ich empfand ein ganz inniges Einvernehmen mit diesem Tier, als ob ich mit ihm reden könnte.

      Als wir in der Wohnung der Laborantin angelangt waren, befahl sie mir in eindringlichem Ton, bei mir zuhause anzurufen und zu sagen, ich käme nicht nach Hause, solle aber keinen Kommentar dazu abgeben, auch nicht verraten, wo ich sei. Ich folgte ihr sklavisch und ließ mich nicht einmal von meiner weinenden Mutter erweichen, die wissen wollte, was um Gottes Willen mit mir los sei. Das war der Vorabend meiner Erkrankung.

      Die Laborantin hatte mir irgendwas zu trinken gegeben, es war in einer großen Flasche, ich weiß nicht, was es war. Ich kann mich nur erinnern, dass ich in der Nacht unter dem Fenster auf einer Bank lag und Viertelstunde um Viertelstunde den Glockenschlag einer nahegelegenen Kirche hörte. Später stellte sich heraus, dass dies bereits die zweite Nacht in ihrer Wohnung war, an die erste Nacht und den Tag darauf konnte ich mich gar nicht erinnern. Auf der Bank unter dem Fenster phantasierte ich, ich sei Jesus kurz vor seiner Kreuzigung. Am Morgen darauf war selbst für mich alles, was ich sagte, zusammenhangslos. Die Laborantin schickte mich heim.

      Zuhause angelangt, nahm ich einen herrischen Ton an, aber stellte fest, dass meine Eltern verständnislos und zutiefst verstört waren. Eine Kommunikation war nicht möglich. Meine Eltern setzten sich und mich ins Auto und wir fuhren in die Schweiz, ein Freund unserer Familie arbeitete dort als Psychiater. Noch immer kam ich mir als der Mittelpunkt der Welt vor. Als mich dann der Psychiater in Empfang nahm und mich bat zu erzählen, war mein erster Satz: “Es gibt Hexen.”

      Meine Mutter war überzeugt, dass die Laborantin mich betrunken gemacht und dann eine Orgie veranstaltet hat, bei der ich vergewaltigt wurde. An etwas Derartiges konnte ich mich nicht erinnern, aber offenbar galt mein Misstrauen unbewusst auch dieser zweiten Hexe.

      Tagelanges fruchtloses Nachdenken über diese Ereignisse brachte mich nicht weiter. Ist die gesunde Susanne in der Vergangenheit zu suchen? Aus meiner heutigen Sicht bleibt mir ja nichts, als zu all diesen Dingen Stellung zu nehmen, oft eine tadelnde Stellung. Sicher, hätte ich noch mal die Gelegenheit, siebzehn, achtzehn Jahre alt zu werden, ich würde manches anders machen,

      In der Psychiatrie sagte man mir, ich sei emotional unreif und diagnostizierte mich zuerst als juvenile Psychose. Aufgefallen war ich durch fehlenden Realitätsbezug, Hexenglauben - wobei ich allerdings eine bestimmte nicht eben gutwillige Kommilitonin im Auge hatte - und dem messianischen Glauben, demnach müsse ich als eine Art heilige Johanna das Volk Israel in den Krieg gegen Russland führen.

      Texte geschrieben in der Weissenauer Psychiatrie. September 1975.

      Frage:

      Wenn der Wolf im Schafspelz Schäfchen zählt, soll er sich selbst mitzählen.

      Antwort:

      Wenn ein Wolf im Schafspelz Einschlafstörungen hat, soll er Mogadon nehmen, das ist besser als Schäfchen zählen.

      In solchen