Wo ist deine Heimat?. Andy Hermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andy Hermann
Издательство: Bookwire
Серия: Das Seelenkarussell
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742722980
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mit dem sie versucht hatte, darüber zu sprechen, hatte das alles als Stressreaktion auf den Verlust ihrer Mutter begründet.

      Als Vera ihm versuchte zu erklären, dass zum Zeitpunkt ihrer Panik ihre Mutter ja noch gelebt habe, erzählte er ihr irgendetwas über posttraumatische Belastungsstörungen, die Vera dazu brächten, ihre Erinnerungen zu vermischen. Vera glaubte dem Psychologen nicht, wusste aber bald selbst nicht, was sie glauben sollte, und was nicht.

      Doch Sigrid Tatenberg hatte die Gabe, tröstende Worte zu finden und Vera zu helfen, wieder an ihre Zukunft zu denken und nicht in Trübsinn zu versinken. Sie kannte die Familie Bauer schon so lange. Sie war einmal maßgeblich an der Rettung Georgs beteiligt gewesen, als dieser von Terroristen entführt worden war, und niemand mehr sein Versteck kannte, in dem er gefangen gehalten wurde (siehe „Das Seelenkarussell“ Band 1 – Vera). Denn alle Terroristen bis auf einen, waren bereits tot. Und dieser eine wollte Georg in seinem Verließ vermodern lassen, wenn nicht Sigrid mit ihren medialen Fähigkeiten eingegriffen hätte, und sie Georg in letzter Sekunde gefunden hätten. Diese Geschichte kannte Vera gut, da sie ihr X-Mal von Anke erzählt worden war.

      Und nun hatte Sigrid Vera den Rat gegeben, sich in das scheinbar Sinnlose zu fügen und einfach nach vorne zu schauen, um ihr Leben wieder leben zu können. Sie sollte versuchen, ihre Zukunft wieder aktiv zu gestalten und in die Hand zu nehmen. Ihr Leben lag ja noch vor ihr.

      Vera war sich da nicht so sicher, aber sie nahm sich die Ratschläge von Sigrid zu Herzen und konzentrierte sich auf ihr Abitur.

       Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 13

      Die Freitagspredigten sind so langweilig. Mein Vater will aber, dass ich in die Moschee mitkomme, aber mich interessieren die alten Geschichten vom Propheten nicht. Ich will kein Muslim sein, da hat man nur Probleme. Alle schauen dich schief an und verachten dich als rückständigen Kameltreiber und sagen „Kümmeltürke“ oder Schlimmeres zu dir. Und nichtmuslimische Mädchen kannst du auch nicht heiraten, die wollen dich alle nicht.

      Aber das darf ich niemandem sagen, dass ich austreten will, denn als Muslim kann man nicht austreten, da steht die Todesstrafe drauf. Da haben es die Christen besser, die können austreten, wenn es ihnen nicht passt, und keiner hat etwas dagegen.

      Im Koran steht, wer seinen Glauben verrät, der ist des Todes. Unser Prediger sagt das auch, aber was will er mir tun, hier mitten in Deutschland, das ist doch ausgemachter Unsinn, aber austreten kann ich trotzdem nicht.

       Aus dem Weblog von Ali – Eintrag17

      Jetzt gibt es einen neuen Prediger in der Moschee, der spricht ganz anders. Der redet viel spannender und verständlicher. Er sagt, er hat Beweise, dass wahr ist, was der Prophet gesagt hat.

      Tarik, der Prediger, ist ein waschechter Deutscher, der zum Islam konvertiert ist, wie er selbst in der Predigt erzählt. Er wurde von Allah erleuchtet und hat sich zum einzig wahren Glauben bekannt. Jetzt vertritt er die wahre Lehre der Sunna und der Salafisten.

      Wenn jetzt schon Deutsche übertreten, dann muss doch was am Koran dran sein. Tarik spricht viel besser, als der alte Prediger. Aber wer sind die Salafisten, das will ich wissen.

       Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 21

      Tarik hat mich eingeladen, ich soll immer auch Dienstag in die Moschee kommen, das Freitagsgebet ist nur für die Muslims mit schwachem Glauben. Dienstag und Freitag hingegen treffen sich die wahren Muslims, dort sind auch Salafisten sagt Tarik. Ich bin neugierig, was das für Leute sind. Ich bin persönlich eingeladen, das macht mich stolz.

      Tarik hat mir Mut gemacht: „Gib niemals auf und vergiss nie, dass du ein Muslim bist. Muslims sind die besseren Menschen. Lass dich nicht mit den Kuffar ein. Beziehungen mit Kuffars sind schlecht für wahre Muslims. Such dir eine anständige Muslima.“

      Tarik hat recht, die Ungläubigen wollen keine Muslims. Das hat mir diese Vera bewiesen. Ich habe sie geliebt, aber sie hat meine Tradition mit Füßen getreten und wollte wegen meines Glaubens nicht mit mir zusammen sein. Dabei habe ich ihr den Heiratsantrag gemacht, bevor sie zum Islam konvertiert ist, das war mehr als großzügig von meiner Familie, dass sie das erlaubt hat.

      Kapitel 8

      Geschafft, das Abitur war abgehakt. Aber Vera hatte keine Lust, zu feiern. Die ganze Klasse war in Feierstimmung, aber Vera wollte nicht feiern.

      Die offizielle Ehrung mit den Auszeichnungen und der Urkundenübergabe durch den Direktor des Gymnasiums hatte sie mitmachen müssen. Aber der Abi Ball, der heute steigen würde, das brächte sie nicht übers Herz, nachdem der versuchte Kauf eines Ballkleides direkt zum Tod ihrer Mutter geführt hatte. Ihre eigenen Verletzungen waren ja längst verheilt, aber die seelischen Wunden waren noch frisch.

      Die Klasse wusste Bescheid, warum Vera heute nicht am Ball sein würde, und es verstanden alle. Es würde auch eine Schweigeminute zum Andenken an Anke als Mutter einer der Abiturientinnen und an alle anderen Opfer des Anschlags geben. Die Hamburger Gesellschaft hatte dieses feige Attentat noch nicht vergessen.

      Aber trotzdem würde es heute eine rauschende Ballnacht geben, schließlich waren Eltern, Geschwister und sonstige Freunde geladen. Es gab schließlich kräftig was zu feiern und ein bestandenes Abi konnte man ja nur einmal im Leben feiern, das ließ sich niemand nehmen.

      Vera saß stattdessen im geräumigen Wohnzimmer im Erdgeschoß der Villa und versuchte sich durch Zappen durch die Fernsehkanäle etwas abzulenken.

      Ihr Leben war eigentlich gelaufen, denn es gab noch einen Grund, nicht feiern gehen zu wollen. Sie hatte den Numerus Clausus versaut und einen Notenschnitt von nur 1,4 hingelegt. Jetzt konnte sie zusehen, ob es eine Medizin Uni gab, die sie haben wollte, oder wo sie den Aufnahmetest schaffte. Mit dem Fixplatz, mit dem Vera so gerechnet hatte, war es Essig.

      Und wenn es keine Uni gab, wo sie unterkam, dann konnte sie ihre Idee, Ärztin zu werden, endgültig begraben. Was sollte sie dann bloß studieren, sie hatte keine Ahnung. Aber nur mit dem Abitur alleine gab es ja keine vernünftigen Jobs.

      Sigrid hatte ihr gesagt, sie solle nach vorne sehen, aber der Tod ihrer Mutter hatte sie mehr aus der Bahn geworfen, als sie sich eingestand. Und von ihrer Schreckensvision mit dem gelben Minikleid hatte sie nicht einmal Sigrid erzählt. Dabei hätte ihr Sigrid die richtige Antwort geben können, da sie die Geschichte des gelben Minikleides kannte.

      Doch Vera war nicht auf die Idee gekommen, es Sigrid zu erzählen, da sie ihre Vision einfach nicht in ihr Weltbild einordnen konnte.

      Auf keinem Kanal war etwas Sinnvolles zu sehen, Vera wollte gerade das Gerät abstellen, als ihr Vater unerwartet bei der Wohnzimmertür hereinkam. Vera hatte nicht gerechnet, dass er so zeitig am Abend schon nach Hause käme.

      Auch Georg war noch nicht über den Tod von Anke hinweg. Aber er hatte wenigstens die Routine in seiner Arbeit und seine Büroumgebung, sie hatte nur ihr Zuhause, wo alles an Anke erinnerte. Denn Anke hatte seinerzeit die Inneneinrichtung der Villa betrieben und viele Stücke liebevoll einzeln ausgesucht. Veras Zimmer war von Anke gemeinsam mit Vera eingerichtet worden. Ihr altrosa Himmelbett, das Vera selbst als kitschig empfand, liebte sie heiß, aber jetzt erinnerte es sie viel zu oft an Anke. Das Lernen in dieser Umgebung war eine Qual gewesen.

      „Hi Paps“, begrüßte sie ihn überrascht, „dass du um diese Zeit schon da bist“.

      „Hi Vera, dich frage ich jetzt nicht, wie es dir geht, aber Kopf hoch, es wird wieder besser.“

      „Was soll da noch besser werden, mit Achtzehn den Numerus Clausus vergeigt, und jetzt wartete wohl nur mehr der Sarg auf sie, oder irgendein öder Bürojob als Sekretärin. Vera schauderte.

      Ihr Vater, der ja wusste, dass der Numerus Clausus in die Hose gegangen war, und der auch fest damit gerechnet hatte, dass sie den Notenschnitt nicht schaffen würde, lächelte verschmitzt.

      „Wer sagt denn sowas“, begann er seine Rede, wobei er auf einmal ein feierliches Gesicht aufsetzte.

      „In