Wo ist deine Heimat?. Andy Hermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andy Hermann
Издательство: Bookwire
Серия: Das Seelenkarussell
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742722980
Скачать книгу
all dem lag noch der Rauch der Explosion, als die ersten Alarmeinheiten am Tatort eintrafen.

      Er stand mitten im Geschehen, völlig alleine und unsichtbar für alle.

      Ayasha hatte seine Hand losgelassen und stand neben ihm. Sie weinte.

      Und er sah die Folgen seiner Tat und war dem Schmerz und der Verzweiflung seiner Umgebung plötzlich direkt und unmittelbar ausgeliefert. Sein Stolz wandelte sich augenblicklich in Entsetzen. Das war nicht mehr wie im Videoclip oder wie beim Egoshooter, jetzt waren die Schmerzen real. Und er war die Ursache all dieses Schmerzes. Er war jetzt ein Massenmörder, der vor seinen Opfern stand. Sein Herz verkrampfte sich. „Ich will nicht mehr leben“, stammelte er.

      „Du bist schon tot“, erwiderte Ayasha mit ernster Stimme. „Die Verantwortung trägst du alleine, für das, was du hier angerichtet hast.“

      „Ich habe doch nur meinen Auftrag ausgeführt“, wollte er sich rechtfertigen. „Sie haben mir gesagt, ich solle es tun.“

      „Getan hast nur du es, du warst der, der die Bombe gezündet hat, nur du alleine“, entgegnete Ayasha.

      „Die Leben, die du vorzeitig ausgelöscht hast, kannst du nicht wieder auf Erden lebendig machen und etliche der Überlebenden werden ihr ganzes restliches Leben ihre Wunden, Narben und Verstümmelungen mit sich tragen müssen.“

      „Ich will nicht, ich bin nicht schuld, man hat mich hereingelegt“, wollte er aufbegehren.

      „Du kannst es nicht ungeschehen machen, es ist passiert und es ist auf immer in die Seelen aller Beteiligten eingebrannt, und in deine ganz besonders.“

      „Gnade“, schrie er, „Allah vergib mir, was habe ich angerichtet.“

      „Allah braucht dir nicht vergeben, denn du sollst wissen, du bist nicht verurteilt. Du musst nur die Folgen deiner Tat tragen. Das ist etwas ganz anderes, und ein viel härteres Schicksal.“

      Sanitäter rannten an ihnen vorbei und durch sie hindurch. Sie versuchten, zu retten, wen sie noch retten konnten, denn die Bombe war sehr stark gewesen.

      Langsam war er an der Seite von Ayasha weitergegangen. Er hatte keine Ahnung, wie er das je wieder gut machen konnte, was er getan hatte.

      Dann sah er sie liegen. Wenn ihm sein Schuldgefühl jetzt schon die Eingeweide halb zerriss, dann war jetzt die Steigerung gekommen. Sein Herz drohte zu bersten, als er sie erkannte. Dort drüben lag Vera, die er einmal geliebt hatte, die er immer noch zu lieben glaubte, am Boden und bewegte sich nicht mehr. Ali wollte seine Existenz sofort beenden und mit der Sache nichts zu tun haben, aber er konnte nicht vor sich selbst flüchten, Seine Seele lebte weiter und würde es noch lange tun. Schmerz und Wut auf alle, die ihn in diese Lage gebracht hatten und auf sich selbst, der das zugelassen hatte, brannten in ihm wie ein loderndes ewiges Feuer.

      Jetzt war er endgültig in seiner Hölle angekommen, aus der es für ihn kein Entrinnen mehr geben konnte.

      Kapitel 6

      Vera blinzelte und öffnete ganz langsam die Augen. „Wo bin ich“, murmelte sie undeutlich.

      Rings um sie war alles hell und weiß. Vera versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, aber sie hatte irgendwie einen Filmriss. Sie wollte doch in die Innenstadt und sich mit ihrer Mutter zum Einkaufen treffen, aber wieso hat sie das nicht gemacht. Was war geschehen und wieso lag sie hier jetzt tatenlos herum. Ihr Kopf tat ihr weh und sie nahm ihre Umgebung wahr, wie durch einen Weichzeichner gefiltert. Alles wirkte gedämpft und wie in weiche Watte gepackt.

      Eine Tür ging auf und eine Frau in einem weißen Mantel kam herein.

      Vera erkannte in ihr eine Krankenschwester. Und als Vera jetzt den Kopf leicht drehte, sah sie die medizinische Ausrüstung, die man hinter ihrem Bett aufgebaut hatte. Mehrere miteinander wild verkabelte Monitore flimmerten und zeigten ihre Werte an. Blutdruck, Herzschlag und vieles mehr.

      „Ah, sehr gut, Sie wachen langsam auf“, erklärte die Schwester, „nur schön langsam, nicht überanstrengen“.

      „Wo bin ich, was ist passiert, ich kann mich nicht erinnern, wieso bin ich hier?“

      „Sie haben großes Glück gehabt, Sie haben nur eine Gehirnerschütterung und sonst keine Verletzungen, Sie werden in wenigen Tagen wieder heimgehen können.“ „Ach ja, Sie sind hier bei uns im Marienkrankenhaus, da sind Sie gut aufgehoben, wir kümmern uns um alles.“

      „Aber was ist passiert, warum habe ich eine Gehirnerschütterung?“, wollte Vera wissen.

      „Die Erinnerung kommt ganz langsam, nichts überstürzen, Sie müssen sich jetzt schonen“, lenkte die Schwester ab.

      Vera war viel zu erschöpft, um jetzt viele Fragen zu stellen. Sie gab sich mit der Erklärung der Schwester zufrieden. Und die Infusionslösung, an die man sie angeschlossen hatte, tat das ihre, um Vera in einen sanften traumlosen Dämmerschlaf zu geleiten.

      Als sie wieder die Augen öffnete, saß Georg, ihr Vater neben ihrem Bett. Er sah so ganz anders aus, als sonst. Vera kannte ihren Vater immer nur gepflegt und rasiert. Meistens trug er gutsitzende Anzüge mit altmodischen Schlipsen. Doch jetzt war er unrasiert und mit zerzaustem Haar. Er trug einen seiner uralten Segelpullover zur Jeans. So würde ihn Mama doch gar nicht aus dem Haus lassen, was war passiert.

      „Schön, dass es dir gut geht“, brachte ihr Vater hervor und versuchte ein Lächeln, welches ihm so gar nicht gelang.

      Nun war Vera plötzlich hellwach. Was war passiert, sie wollte es jetzt wissen.

      „Du hattest einen Unfall,“, erklärte ihr Vater, „du musst dich schonen.“

      Doch Veras Energien waren zurück und sie widersprach mit kräftiger werdender Stimme: „Ich will endlich wissen, was passiert ist, keiner sagt mir was und ich weiß nur, da war dieses überfüllte Einkaufszentrum, da wollte ich mich mit Mama treffen. Dann ist alles weg. Bin ich von einem Auto angefahren worden, erzähl´ endlich. Wie lange bin ich schon hier.“

      Ihr Vater sah ernst drein: „Jetzt ist Sonntagabend, du liegst seit Freitag hier. Du bist mit dem Kopf auf den Steinboden gekracht, sowas kann böse ausgehen, du hast echtes Glück gehabt.“

      Plötzlich hatte ihr Vater Tränen in den Augen, als er fortfuhr:“ Zehn Meter haben dir das Leben gerettet.“

      Vera spürte eine unbestimmte Angst in sich aufsteigen. Da war etwas, was ihre Kehle zuschnürte, man wollte ihr nicht alles sagen.

      „Wo ist Mama?“, fragte sie tonlos.

      Da setzte schlagartig ihre Erinnerung ein und sie sah das gelbe Ballkleid vor sich, dass ihr ihre Mutter hatte zeigen wollen. Und dann war sie davongerannt, und dann war der Erinnerungsfilm abgerissen.

      „Das Ballkleid, sie wollte mir das Ballkleid zeigen“, brachte Vera hervor und sah ihren Vater an, der seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.

      Er konnte nichts sagen, er brachte kein Wort heraus. Vera sah ihn entsetzt an und wusste Bescheid, sie würde ihre Mama nie wiedersehen.

      So vergingen lange Minuten des Schweigens. Vera hatte sich ins Kissen geworfen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihr Vater saß traurig neben dem Bett und dachte an Anke, die er nun endgültig verloren hatte.

      Sie hatten eine gute Ehe gehabt, sie hatten sich geliebt und vieles zusammen unternommen. Georg dachte an die gemeinsamen Segeltörns auf der Nordsee, die sie beide so geliebt hatten. Doch in den letzten Jahren waren sie beide viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Anke hatte ihre vielen Verpflichtungen, die ihr Leben so ganz auszufüllen schienen und war des Abends oft bei den karitativen und sozialen Veranstaltungen, die sie selbst mitorganisierte.

      Warum war das so gewesen, fragte sich Georg, dass sie in den letzten Jahren so wenig Zeit miteinander verbracht hatten.

      Es kam ihm nicht in den Sinn, dass Ankes Aktivitäten ihre Antwort auf seine Firmenkarriere war. Schließlich war er ständig