Wo ist deine Heimat?. Andy Hermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andy Hermann
Издательство: Bookwire
Серия: Das Seelenkarussell
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742722980
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dass wir beide es akzeptieren, dass Anke tot ist. Sie kommt nicht mehr und unsere Erinnerung an sie kann uns keiner nehmen. Aber dieses Haus atmet den Geist von Anke. Jede Tapete und jede Kommode erinnert an sie. Wir müssen diesen Teil unseres Lebens abschließen. Wir müssen umziehen.

      „Spann mich nicht auf die Folter, wohin sollen wir ziehen, sprich“, war Vera plötzlich interessiert. Denn so hatte sie ihren Vater seit Ankes Tod nicht mehr reden gehört. Es klang nach Aufbruchstimmung.

      Bisher hatte er nur niedergeschlagen und gedrückt gewirkt. Nichts hatte ihn aufmuntern können, denn erst nach Ankes Tod hatte er begriffen, wie sehr er an ihr hing und wie sehr er sie geliebt hatte. Vor Vera versuchte er seine Selbstvorwürfe zu verbergen. Er wollte nicht als Schwächling dastehen, als Mann, der mit Schicksalsschlägen nicht fertigwerden konnte.

      „Eigentlich wollte ich es dir erst morgen sagen, aber ich denke, deine Stimmung muss schon heute aufgehellt werden.“

      „Wir ziehen nach Wien“, verkündete er mit einem Lächeln.

      Vera blieb der Mund offenstehen, mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit. Ihr Vater war der waschechte Hamburger aus dem Bilderbuch, mit Segelboot und allem was dazu gehörte. Und er wollte nach Wien? Was sollte aus seinem Job werden, den er doch so liebte? Er war doch nicht mehr so jung, um alles hinzuschmeißen.

      Aber Georg sprach weiter: „Die Umstände waren günstig und ich nutze die Gelegenheit. In Wien wurde der Posten des Direktors der Niederlassung frei und ich habe mich konzernintern beworben und den Posten bekommen. Der alte Direktor hat einen Schlaganfall nicht überlebt, und seine Stellvertreter waren von der Konzernleitung als nicht geeignet befunden worden. Ich habe den Posten bekommen, da ich hier schon jahrelange Erfahrung als Niederlassungsleiter habe. So hat sich mein Einsatz hier schlussendlich voll ausgezahlt.“

      „Und was du vielleicht nicht weißt, Vera, in Wien gibt es auf der Medizin Uni ein Kontingent für deutsche Numerus Clausus Flüchtlinge, wie es die Wiener ganz uncharmant nennen, da kannst du reinkommen und in Wien auf der Med Uni Medizin studieren. Was sagst du dazu.“

      „Das geht?“, war Vera überrascht, dann sprang sie aus ihrem Fauteuil und fiel ihrem Vater um den Hals.

      „Danke Paps, aber du machst das doch nicht nur wegen mir, du willst doch wirklich auch nach Wien?“

      „Sicher, ich habe den Job ja nur in Wien. Und da hängt fast ganz Osteuropa dran. Anders als hier in Hamburg, wo wir uns ständig mit München und Berlin um die Aufträge prügeln mussten, geht es von Wien bis Bukarest in einem durch. Da gibt es Möglichkeiten ohne Ende. Für uns beide.“

      „Lass uns ein neues Leben in einer fremden Stadt beginnen und es gibt wieder eine Zukunft, für die es sich zu leben lohnt.“

      Vera war überwältigt, eben noch schien Selbstmord die erstrebenswerteste Option und nun war alles ganz anders.

      „Wann starten wir“, wollte Vera wissen, und weiß Onkel Alfred schon davon. Onkel Alfred war Georgs älterer Bruder, der das Familienerbe, die Bauer Werke, als Vorstandsvorsitzender leitete, seit sich Großvater endgültig zur Ruhe gesetzt hatte. Georg hätte auch dort arbeiten können, er wollte aber nicht unter der Fuchtel seines Bruders stehen, er wollte sich selbst etwas aufbauen. Die beiden Brüder waren grundverschieden. Alfred war der Familienpatriarch, der die Bauerwerke im Sinne eines feudalen Fürstentums leitete. Georg war da ganz anders, er arbeitete mit modernen Managementmethoden und war viel sensibler als sein rauerer Bruder. Und so war das Verhältnis der beiden Brüder recht kühl und distanziert.

      „Nein, wie kommst du darauf, du bist die erste in der Familie, die es erfahren hat“, antwortete Georg.

      „Es ist erst seit zwei Tagen fix, seit ich die Verträge unterzeichnet habe. Wir fliegen nächste Wochen nach Wien, um einmal eine Wohnung zu finden und damit ich mich dort einmal in der Niederlassung bekannt machen kann. Denn dort werde ich in der ersten Zeit wenig Freunde haben, dafür sorgen sicher meine beiden Stellvertreter, die nicht zum Zug gekommen sind.“

      „Aber mach dir keine Sorgen, das wird schon, denn mein Job in Wien geht erst im August los, bis dahin muss ich hier in Hamburg alles an meinen Nachfolger übergeben haben. Aber das ist einfach, denn das ist mein Stellvertreter Heinrich Krause, dem kann ich voll vertrauen und er wird seine Chance nutzen. Da bin ich überzeugt.“

      Vera wäre am liebsten sofort auf ihr Zimmer gelaufen, um zu packen. Doch Georg hatte eine bessere Idee

      „Ich habe im Petit Four in Altona einen Tisch für uns beide reserviert. Das gönnen wir uns jetzt.“

      Der Schreck durchzuckte Vera, wie sah sie denn aus, völlig strubbelig und in ihren Hausklamotten. Da musste sie sich ja elegant herrichten und das sozusagen in Nullzeit. Sie rannte los und stürmte das Badezimmer und überlegte, wie sie ihre Frisur ohne Friseur so hinbekäme, so dass sie frisiert aussähe. Und dann noch rasch ein passendes Kleid aus dem Schrank und ein wenig Make Up auftragen und es konnte losgehen.

       Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 24

      Tarik versteht mich. Wenn ich ihm folge, hat er gesagt, kann ich ein wahrer Muslim werden. Und hat gesagt, mein Vater ist nicht mit dem Herzen Muslim, er lebt den Koran nicht, er hält sich nicht an die Gebote. Er tut nur so, als ob. Ich habe ihn sogar schon Bier trinken sehen. Das ist gefährlich, da drohen ihm die Höllenfeuer. Aber das darf ich meinem Vater nicht sagen, Tarik hat es verboten.

      Tarik wird uns unterrichten, wir sind nur eine ganz kleine Gruppe und Tarik ist unser Prediger. Er sagt, er wird uns in eine große Zukunft führen. Aber noch darf es niemand wissen. Wir müssen schweigen, nur hier schreibe ich alles auf, sonst merke ich es mir nicht. Den Blog sieht Tarik aber nicht, und sonst auch niemand.

      Kapitel 9

      Das Essen im Petit Four war großartig. Zur Vorspeise hatten sie Mousse von jungen Erbsen und Krustentiergelee, als Zwischengang wurde eine köstliche Terrine von der Foie Gras aus dem Elsass serviert. Schließlich der Hauptgang mit Steinbutt unter Kartoffelschuppen mit Vin Jaune Jus, Lauchpüree und Pfifferlingen.

      Vera meinte, noch nie so gut gegessen zu haben, der französische Koch hatte sich selbst übertroffen und der Rotwein aus dem Burgund tat das übrige um das Mahl zu einem Festessen werden zu lassen. Dann kam die Käseauswahl und zum Schluss noch das Tüpfelchen auf dem I, geeiste Gariguette-Erdbeere mit Mandelschokolade und Tahiti Vanille.

      Aber es war etwas ganz anderes, was für Georg und Vera eine Wohltat war. Seit dem Tod von Anke war es das erste Mal, dass sie zu zweit essen waren. Jetzt fühlten sich beide gut und ließen es sich schmecken. Bisher hatten sie sich nur mit schneller Küche und irgendwie von der Hand in den Mund ernährt. Nun aber saßen sie beide in festlicher Stimmung bei Tisch. Vera hatte es geschafft, sich noch rasch herauszuputzen und Georg hatte seinen hellen Büroanzug gegen einen dunkelblauen Anzug getauscht, der auch am Abend getragen werden konnte.

      Es war, wie wenn sich irgendwo im Hintergrund leise und unsichtbar eine Tür geschlossen hätte, durch die Anke nun verschwunden war. Wie wenn sie erst jetzt wirklich gegangen wäre, wie als wenn sie gewartet hätte, dass Vera ihr Abitur hinbekommt. Nun konnte sie beruhigt in andere Sphären gehen, da sie wusste, ihre Familie würde ihren Lebensweg auch ohne sie schaffen.

      Sie redeten über Wien. Vera war noch nie in Wien gewesen und auch Georg kannte es nur von einigen kurzen Geschäftsreisen. Ein richtiger Städteurlaub nach Wien war nie auf der Agenda der Familie Bauer gestanden. Sie hätten nicht einmal sagen können, warum.

      Sie besprachen ihre Zukunft. Vera würde ihre Freundinnen hier zurücklassen müssen, aber es gab ja Whats App und all die anderen Medien, da würde der Kontakt schon nicht ganz abreißen.

      Wien war ungefähr gleich groß wie Hamburg, aber völlig anders. Vera würde einige Überraschungen erleben.

      Sie waren nun wieder eine kleine Familie, Vater und Tochter zwar nur, aber mit Blick auf die Zukunft gerichtet. Nun konnte sie nichts mehr so schnell erschüttern.

      Auf der Heimfahrt lehnte Vera leicht beschwipst