Wo ist deine Heimat?. Andy Hermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andy Hermann
Издательство: Bookwire
Серия: Das Seelenkarussell
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742722980
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ihr seid doch gar nicht so religiös“, warf Vera ein.

      „Stimmt, wir gehen selten zum Freitagsgebet, aber Muslims sind wir schon. Das ist nicht nur die Religion, das ist unsere Tradition und unser Lebensstil, und dass ist es, worauf es ankommt. Ich bin Türke, und ich bin stolz darauf, auch wenn ich jetzt hier in Hamburg lebe. Und wenn du mit mir zusammen sein willst, dann musst du das schon akzeptieren. Ich gebe ja auch viel auf, ich verzichte auf den Schiffsoffizier und bleibe an Land bei dir. Ich arbeite in der Bäckerei und wir sehen uns jeden Tag, wenn ich nach Hause komme.“

      „Ich dachte, du bist Deutscher“, entfuhr es Vera.

      „Ja, auch, was die Staatsbürgerschaft betrifft, aber ich fühle mich immer noch der Türkei verbunden, denn meine Familie und alle Verwandten sind von dort, auch wenn viele jetzt hier leben. Wir sind nun einmal Türken und bleiben Türken.“

      „Und du erwartest, dass ich meinen Lebensstil aufgebe und den türkischen ganz selbstverständlich annehme, nur weil das bei euch so Tradition ist“, erklärte Vera ganz ruhig.

      „Wie die Familie lebt, bestimmt der Mann, das ist seit der Zeit des Propheten so, und das wird sich auch nicht ändern. Jeder bekommt seine Rolle und du kannst dich nicht beklagen, denn du bist schließlich ein Mädchen und das war immer so und wird immer so bleiben.“

      „Schade, dass es so ist, und du es nicht ändern willst, ich hätte dir mehr zugetraut“, erwiderte Vera, in der ein Entschluss herangereift war.

      „Aber das Gute an der Sache ist, dass du so ehrlich warst und die Wahrheit gesagt hast. Das erspart uns viele fruchtlose Diskussionen und Streit. Dafür mag ich dich und die Erinnerung an diesen Sommer, die kann uns niemand mehr nehmen.“

      Zwei kleine Tränen rannen über die Wange von Vera. Es fiel ihr gewiss nicht leicht, aber es ging nicht anders. Alis Tradition ließ keine anderen Möglichkeiten zu.

      „Aber jetzt trennen sich unsere Wege für immer, und ich wünsche dir von Herzen, dass du ein Mädchen aus der Türkei findest, die so ist, wie du dir das vorstellst. Ich bin es nicht.“

      Ali war wie vor den Kopf geschlagen, damit hatte er nicht gerechnet, Vera wusste doch, dass er Türke und Muslim war, wieso plötzlich dieser Rückzieher. War er ihr etwa zu minder, gab es da noch jemanden anderen? Ali verstand die Welt nicht mehr und rief laut aus: „Vera, ich liebe dich, was habe ich falsch gemacht. Verlass mich nicht, ich brauche dich doch. Das kannst du doch nicht tun.“

      Einige Gäste an den Nachbartischen drehten daraufhin ihre Köpfe in ihre Richtung.

      Vera, die neben dem Tisch stand, an dem Ali noch immer saß, hoffte nur, dass es von den Nachbarn keine dummen Meldungen über Ausländer gäbe, doch da nichts weiter geschah, ließ das allgemeine Interesse auch gleich wieder nach.

      Da Ali keine Anstalten machte, aufzustehen, bedankte sie sich für das Eis und steuerte auf den Ausgang zu.

      Erst da sprang Ali auf, ließ einige Euro am Tisch liegen und lief ihr nach.

      Draußen vor dem Lokal wollte er Vera aufhalten und hielt sie am Arm fest. Sie riss sich los und beschleunigte ihre Schritte. Ali war knapp hinter ihr. „Überleg es dir doch noch einmal“, rief er ihr nach.

      „Hör auf, mich zu verfolgen, du machst es nur noch schlimmer“, zischte sie zurück.

      Das sah Ali auch ein und blieb stehen, aber er hatte ja ihre Nummer, er konnte sie jederzeit anrufen.

      Das tat er dann auch so häufig, dass zwei Tage später seine Nummer auf der Sperrliste von Veras Smartphone eingetragen war und sie seine Anrufe gar nicht mehr erhielt.

      Vera tat Ali leid, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt, eigentlich mochte sie ihn noch immer, aber das war jetzt Vergangenheit.

      Und Ali würde Vera nie vergessen, aber er war in seiner Tradition gefangen. Und alles nur, weil Vera keine Muslima war, dachte Ali, denn wäre sie eine oder wäre sie konvertiert, dann hätte sie ihn nicht abgewiesen.

      Es wäre alles ganz anders gekommen, aber so nahm das Schicksal seinen Lauf.

      Kapitel 5

      Er konnte nichts sehen, rund um ihn herum war nur ein hellgrauer milchiger völlig undurchdringlicher Nebel.

      Er fühlte sich stolz, aber auch ein klein wenig ängstlich. Die gewaltige Anspannung der letzten Tage war völlig von ihm abgefallen. Ruhig und langsam setzte er Schritt für Schritt durch diesen seltsamen Nebel. Er wusste nicht, wo er sich befand.

      Er hatte es getan. Er hatte gemacht, was ihm aufgetragen worden war. Er hatte gegen die Ungläubigen gekämpft und sie getötet. Wie viele es waren, wusste er nicht, aber das war ihm jetzt auch egal. Nun war er ein Held und die Freuden des Paradieses warteten auf ihn. So hatte man es ihm gesagt und er hatte es bereitwillig geglaubt.

      Nun würde er seinen gerechten Lohn erhalten. Er war jetzt ein Krieger Gottes im heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Ihm war das Paradies versprochen. Hüris, Paradiesjungfrauen würden auf ihn warten, ihm süße Früchte kredenzen und alle seine Wünsche erfüllen. Seine Tat erfüllte ihn mit Stolz und Freude, er war jetzt ein Held und würdig für das Paradies.

      Doch vorerst war nur dieser seltsame Nebel um ihn. Der Boden, auf dem er stand, schien fest und war auch von grauer Farbe. Wenn er seine Hand ausstreckte, konnte er sie sehen, aber nach drei Metern war die ganze Umgebung durch diesen Nebel verhüllt. Das Paradies musste doch anders aussehen, dachte er bei sich, als er zögerlich einen Schritt vor den anderen setzte, um nicht irgendwo dagegen zulaufen.

      Doch hier gab es nichts, wogegen er hätte laufen können, der Boden war glatt und völlig ohne Hindernisse.

      Er blieb stehen und sah sich um, nichts als Nebel ringsum und dann stand SIE vor ihm.

      Eine so schöne Frau hatte er noch nie gesehen. Er war überwältigt. Sie trug ein langes in Falten geworfenes helles Gewand. Ihre Haare waren züchtig mit einem Schleier verhüllt und ihr Gesicht zeigte nicht den geringsten Makel, sondern nur strahlende Schönheit. Sie lächelte ihn freundlich an und sagte: „Ich bin Ayasha, willkommen in deinem Paradies, du großer Krieger.“

      Dabei streckte sie ihm verheißungsvoll die Hand entgegen. „Lass dir dein Paradies zeigen, komm“, lud sie ihn ein.

      Ali jubelte innerlich, es war wirklich wahr und hier war schon die erste Hüri zu sehen, die ihm gleich die Herrlichkeiten des Paradieses zeigen würde. Freudig erregt ergriff er ihre dargebotene Hand.

      Der Schmerz war so überwältigend und intensiv, wie wenn er eine Hochspannungsleitung berührt hätte. Alles in ihm verkrampfte sich. Seine Versuche, sich loszureißen scheiterten. Sie hielt ihn fest und sein ganzer Körper brannte wie Feuer.

      Er ging in die Knie und Ayasha hielt noch immer seine Hand und lächelte.

      Dann überflutete eine Welle von Trauer seinen Geist, alles um ihn herum wurde schwarz und finster. Er fühlte sich in einem Meer von Tränen und meinte, darin ertrinken zu müssen.

      „Wer bist du“, stammelte er, auf dem grauen Boden knieend und sich vor Schmerz windend.

      „Jemand, der es gut mit dir meint, ich bin dein Schutzengel, und jetzt sehen wir uns einmal ein wenig um“, sprach sie mit sanfter Stimme.

      Die Dunkelheit und der Nebel wichen von der Szenerie und er erkannte die Shopping Mall wieder, die er vor wenigen Augenblicken verlassen hatte. Doch wie sah es hier aus.

      Deckenverkleidungen waren herabgestürzt, Mauerteile waren geborsten. Das Geländer der umlaufenden Galerie des zweiten Stockes war zerschmettert und auf die Köpfe der Menschenmenge im Erdgeschoß gekracht. Alles war voll Glasscherben und überall am Boden lagen menschliche Körper in ihrem Blut. Abgerissene Gliedmaßen waren verstreut zwischen den Trümmern der Weihnachtsdekoration.

      Die Schmerzensschreie der Verwundeten wurden von den auf Hochtouren schrillenden Alarmsirenen übertönt. Blutende Leichtverletzte, denen nur die umherfliegenden Glassplitter