Wo ist deine Heimat?. Andy Hermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andy Hermann
Издательство: Bookwire
Серия: Das Seelenkarussell
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742722980
Скачать книгу
Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 30

      Nur der wahre Islam kann uns vor dem Höllenfeuer bewahren. Tarik zeigt uns den wahren Islam, er ist echter Salafist, sagt er. Er wird uns lehren, was das ist und wie du als Salafist leben musst. Es gibt keinen Gott außer Allah und Muhammad ist sein Prophet. Das ist die ganze Lehre. Er wird uns zeigen, was das bedeutet.

      Kapitel 10

      Die Halle war riesig, man konnte kaum an das Ende sehen. Vor Vera reihte sich Tisch an Tisch und an jedem Tisch saß genau ein Kandidat. Alle mussten den gleichen Test machen. Die Zeit lief und der Stress war gewaltig.

      Aufseher gingen zwischen den Tischen durch und achteten gnadenlos darauf, dass jeder Kandidat auf der richtigen Seite arbeitete. War die Zeit für eine Seite vorbei, musste umgeblättert werden, auch wenn noch nicht alle Fragen beantwortet waren.

      Es waren sechzehntausend Kandidaten. Burschen und Mädchen aus drei Dutzend verschiedenen Ländern saßen hier in Wien, Graz und Innsbruck zur selben Zeit vor ihren Fragebögen.

      Alle wollten Medizin studieren und hier in Wien hatte man eine Messehalle als Prüfungsarena umfunktioniert, denn einen so große Saal gab es auf keiner Uni.

      Und mitten drinn saß Vera. So schwer hatte sie sich den Test nicht vorgestellt. Sie hatte zwar die Vorbereitungsskripten durchgearbeitet, und sie konnte gut kombinieren und leicht auswendig lernen, aber die wenigen Wochen zwischen ihrem Abitur und der Aufnahmsprüfung in Österreich waren doch recht kurz gewesen, um sich auf diese Megaprüfung vorzubereiten. Vera hatte erfahren, dass es Studenten gab, die sich zwei Jahre lang auf diese Prüfung vorbereiteten, nur um es am Ende doch nicht zu schaffen, einen der begehrten Ausbildungsplätze an der Med Uni Wien zu bekommen.

      Umso länger der Test dauerte, umso mehr bekam Vera das Gefühl, zu viele Fragen unbeantwortet gelassen zu haben. Da war schon vor Beginn des Studiums medizinisches Fachwissen im Detail gefordert, dass sie als Abiturientin eines normalen deutschen Gymnasiums einfach nicht hatte. Sie hätte sich längst viel mehr mit Medizin beschäftigen müssen. Aber daran hatte sie in Hamburg nicht gedacht, sie hatte fest damit gerechnet, den Numerus Clausus zu schaffen.

      So blieb ihr nur mehr die Hoffnung, dass die anderen Deutschen Numerus Clausus Flüchtlinge, wie sie hier in Wien so uncharmant genannt wurden, noch schlechter waren und sie dadurch einen Platz im fix definierten Kontingent bekäme.

      Erst zwei Tage vor der Prüfung hatte sie erfahren, dass dies auch bedeuten könne, in Graz oder Innsbruck studieren zu müssen, falls in Wien schon alle Plätze belegt wären. Das wäre eine völlige Katastrophe, da ihr Vater seinen Job in Wien antreten würde, und sie dann fernab in den Tiroler Bergen säße.

      Das österreichische Medizinstudiensystem war für sie völlig fremd. Das war so völlig anders, als in Deutschland, wo sie sich auf den Websites der Universitäten über ihre Möglichkeiten informiert hatte.

      Die hatten hier alles komplett straff durchorganisiert, wie wenn die Schule einfach weiterginge. Von freiem Studentenleben keine Spur, es gab hier Anwesenheitspflicht und einen strengen Stundenplan.

      Vera erfuhr von Kolleginnen, dass sie hier vor einigen Jahrzehnten das völlig Chaos im Medizinstudium hatten. Da konnte es passieren, dass jemand fünfundzwanzig Semester studierte, da er nie Plätze in den vorgeschriebenen Praktika bekam und alle Proseminare auf ein Jahr ausgebucht waren.

      Jetzt hatte jeder seine Seminarplätze und Laborplätze fix, wenn er einmal im System war, und den Aufnahmetest geschafft hatte. Dadurch wurde die Studiendauer gewaltig reduziert. Allerdings nur bis zur Diplomprüfung. Dann kamen die Lehrjahre in einem Spital als Turnusarzt und danach noch eine Facharztausbildung, wenn man nicht als praktischer Arzt irgendwo in der Provinz enden wollte, wo man den Leuten den Schnupfen kurieren konnte, und sie bei jedem echten Problem an den nächsten Facharzt überweisen musste. Das war für Vera nicht erstrebenswert.

      All das und noch vieles mehr ging Vera durch den Kopf, als sie nach der Prüfung erschöpft in der neuen Wohnung in Hietzing aus dem Fenster ihres Studierzimmers blickte.

      Georg hatte eine geräumige Wohnung in Hietzing, einem der Wiener Nobelbezirke gemietet. Genaugenommen war es eine Etage in einer ehemals herrschaftlichen Villa, ganz in der Nähe von Schloss Schönbrunn in einer ruhigen Seitengasse. Die Villa einer Geliebten von Kaiser Franz Joseph solle ganz in der Nähe sein, hatte man Georg erzählt.

      Fünf Wohnräume, kleiner wollte es Georg nicht haben. Ein geräumiges Wohnzimmer in der Mitte, links Veras Studierzimmer und anschließend ein kleines Kabinett, welches sie als Schlafzimmer nutzte. Rechts auf der anderen Seite des Wohnzimmers lag das Arbeitszimmer von Georg, welches auch noch als kleiner Saloon genutzt werden konnte. Dahinter gab es ein großes Schlafzimmer, in das Georg kein Doppelbett gestellt hatte, obwohl das Zimmer dazu gerade einlud. Doch er hatte gesagt, das brauche er jetzt nicht mehr in seinem Alter und im Andenken an Anke.

      Alle Räume hatten große Fensterflächen und waren nach Süden oder Westen gerichtet. Sie hatten sie viel Sonne in der Wohnung und blickten in eine weitläufige Gartenlandschaft mit altem Baumbestand, die sie aber nicht benutzen konnten, da diese sich nur über die Nachbargärten erstreckte.

      Sie hatten sich nur mit den notwendigsten Möbeln ausgestattet, alles in modernem und nüchternen Stil mit dunklem Holz, das gut mit den weißen Wänden der Wohnung harmonierte. Alle Möbel waren noch nicht geliefert worden, es gab noch einige Lücken und etliche Umzugskartons waren an Stelle der Möbel an die leeren Wände geschoben worden und vermittelten den Eindruck, noch nicht wirklich in Wien angekommen zu sein.

      Vera war müde, die Prüfung hatte sie sehr angestrengt. Jetzt war Ende Juni und das Ergebnis würde sie erst Mitte August erfahren. Das war knapp, für den Fall, dass sie es nicht geschafft hatte und sie sich dann noch wo anders bewerben musste.

      Ihr Kopf sank auf die Schreibtischplatte, sie wollte nur für einen Moment die Augen schließen, doch schon nach wenigen Sekunden war sie in einen tiefen und festen Schlaf gekippt.

      Sie lief über eine große baumlose Wiese. Nirgendwo war eine Grenze zu erkennen, es gab nur weiten Horizont rings um sie und sie konnte keinen Weg finden. Alles war gleichmäßig grün und eintönig. Sie wusste die Richtung nicht, in die sie laufen sollte. Plötzlich spürte sie, dass sie nicht alleine war, aber sie konnte niemanden sehen. Sie glaubte, ein ganz leises homerisches Gelächter zu hören, welches sie gut kannte.

      „Alexander, bist du es“, wisperte Vera. Das Lachen wurde lauter. Vera blieb stehen und sah sich um, konnte aber niemanden sehen.

      „Direkt vor deiner Nase“, kam ihr unvermittelt in den Sinn.

      Vor ihr schien die Luft ein wenig zu flimmern. Vera versuchte sich zu konzentrieren, um besser sehen zu können.

      „Lass gut sein, du kannst mich hören, wenn du mich nicht siehst, macht das nichts“.

      Veras Konzentration ließ nach. „Puh, war das jetzt anstrengend“, dachte sie.

      „Du hast dir deinen Weg selbst vorgenommen, erinnere dich, bevor Anke dich geboren hat“.

      Auf einmal hatte sie Klarheit, wie wenn jemand einen Schleier von ihrem Unterbewusstsein weggezogen hätte. Sie konnte ihren Weg als Medizinerin sehen. Sie wusste plötzlich ganz bestimmt, dass sie einen Studienplatz in Innsbruck bekommen würde, da Wien so voll war und ihre Punkte für Wien nicht ausreichten.

      In Innsbruck würde sie ungeahnte Möglichkeiten haben. Schon als Studentin wäre sie in ein Projekt der ganz anderen Art eingebunden. Sie würde bei bahnbrechenden Forschungen mitarbeiten dürfen, die einmal das Leben aller Menschen auf der Erde nachhaltig verändern könnten.

      Als Assistentin eines berühmten Professors würde sie gleich nach dem Studium eine gutbezahlte Stelle bekommen, denn sie würde mit Auszeichnung abschließen. Die Assistentenstelle war aber nicht an der Uni, sondern ein weltumspannender Konzern bezahlte das alles. Sie würde die Welt sehen, den Professor zu Kongressen begleiten und viele interessante Leute kennenlernen.

      Sie sah sich später