"Was hältst du eigentlich von den Wissenden, Sacris?", fragte Lewyn mit gedämpfter Stimme, während sie den lebendig lauten Markt durchquerten. Sacris sah seinen Freund von der Seite her an und hob eine Augenbraue. "Von den … Wissenden?", erwiderte er verwundert und ließ die zweite Augenbraue der ersten in die Höhe folgen. Ein wenig angespannt wiederholte Lewyn: "Ja, von den Wissenden …!"
Der Prinz atmete einmal hörbar aus und dachte einen Moment lang nach. "Du stellst ja vielleicht seltsame Fragen …", murmelte er schließlich und sah in die Ferne, "Was man von denen halten soll? Nunja, sie sind in sich verschlossen, keiner weiß, was sie eigentlich wollen, woher sie kommen und warum sie das tun, was sie tun …", und er schaute seinen Freund mit einem schiefen Grinsen an, "Insgesamt also alles andere als Vertrauen erweckend, wenn du mich fragst. In Bezug auf sie bin ich deswegen vorsichtig. Zudem kann ich nicht nachvollziehen, warum Vater ausgerechnet sie als Berater gewählt hat." Letztlich zeigte Sacris mit der Hand auf sich selbst und schloss: "Ich für meinen Teil würde niemanden in diesem Amt haben wollen, dessen Beweggründe derart unergründlich sind wie die der Wissenden."
Da lächelte Lewyn nachdenklich und bemerkte: "Eine recht ausführliche Antwort dafür, dass dir die Frage so ungewöhnlich schien, findest du nicht auch?" Sacris begegnete ihm mit Verwirrung und begriff nicht, worauf er eigentlich hinauswollte. "Naja, natürlich habe ich mir schon Gedanken um sie gemacht", erwiderte er, "Schließlich werde ich bald selbst vor der Entscheidung stehen, ob ich ihnen als König vertraue oder nicht." Sein Freund wiederum sah zu ihm auf und wurde unerwartet ernst: "Wirst du den Zirkel der Wissenden von seiner Beraterfunktion entbinden, sobald du König bist?" Der Prinz seufzte und entgegnete kopfschüttelnd: "Das kann ich dir nicht sagen, Lewyn. Dazu weiß ich einfach viel zu wenig über sie. Bisher bin ich allerdings auch noch nie dazu gekommen, mit Vater darüber zu sprechen."
Dann hielt Sacris jedoch inne und betrachtete seinen Gefährten mit einem jähen Schmunzeln. "Und abgesehen davon ist es ja nicht so, als hätte ich je einen Hehl daraus gemacht, was ich von den Wissenden halte …! Immerhin bin ich damals doch derjenige gewesen, der den Spionagefeldzug gegen den Mercurio ausgeheckt hat."
Daraufhin musste der Blonde leise lachen: "Ja, aber am Ende saßen wir dann trotzdem beide zusammen bei Brey in den Stallungen fest und durften eine Woche lang Mist wegräumen!" Sacris konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. "Na, komm schon, so schlimm war es dann auch wieder nicht – Brey hat uns wenigstens dabei geholfen!", und er lehnte sich ein wenig zu seinem Gefährten rüber, "Und eigentlich war mein Plan ja perfekt – nur, wer hätte ahnen können, dass eine Dienstmagd unsere Flohpulverfalle auslösen würde, wo doch eigentlich der Mercurio hätte als nächster in den Raum kommen sollen …?!"
Als Lewyn daraufhin mit dem Kopf zu schütteln begann, fügte der Prinz noch verteidigend an: "Hey, ich bitte dich, dafür konnte ich nun wirklich nichts! Sie war neu angestellt gewesen und hatte sich verirrt!" Doch hob der Blonde daraufhin nur tadelnd den Zeigefinger in die Höhe und richtete ohne Gnade über ihn: "Ah ah, keine Entschuldigungen, Freundchen, keine Entschuldigungen! Du hast mich da total mit reingeritten!"
"Jetzt stell dich doch mal nicht so an …!", meinte Sacris ungläubig lachend und schlug seinem Freund locker gegen die Schulter, "Als ob ich dich gezwungen hätte, da mitzumachen!" – "Na, was denkst du denn! Als ob ich damals eine Wahl gehabt hab!", rief Lewyn übertrieben entrüstet und stemmte seine Arme in die Hüfte, "Es hieß doch ständig von allen Seiten, ich soll mir dich zum Vorbild nehmen! Was tut klein Lewyn also? Macht alles nach, was klein Sacris ihm vormacht!", und er begann, wild um sich zu gestikulieren, "Fleißig lernen. Mercurio piesacken! Fleißig lernen. Von selbstgebauten Baumhäusern herabstürzen! Fleißig lernen. In einen vermeintlich zugefrorenen See einbrechen und in der darauffolgenden Rettungsaktion das halbe henxische Bataillon mit ins Eiswasser ziehen!"
Sacris lachte herzhaft auf. "Sei bloß still, du wandelndes, kriminelles Element, du! Ein Vertrauensmissbrauch nach dem anderen!", regte sich der hellhaarige, junge Mann lauthals auf, "Dadurch, dass ich dir alles bedenkenlos nachgemacht habe, war ich am Ende noch wesentlich schlimmer dran, als wenn ich gar nichts davon getan hätte!" Noch immer lachend wuschelte ihm der Prinz durch die langen Haare und entgegnete: "Jaja, na und? Bereust du es etwa?", und wieder breitete sich ein Grinsen auf seinen Lippen aus, "Wärst du doch lieber ganz bei den Henxern aufgewachsen, anstelle ein halbes Dutzend von ihnen mal eben aus Versehen ins Wasser zu reißen?" Da schüttelte Lewyn abermals den Kopf und ließ ein unerwartet mildes Lächeln sehen. "Ach was, Blödsinn …", meinte er resigniert seufzend – und auf eine sonderbare Weise zufrieden mit sich und der Welt, "Es waren zwar die verrücktesten, aber auch die schönsten Tage meines Le-"
Ein plötzlicher Aufschrei zog die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf sich. Auf der breiten Straße vor ihnen staute sich die Menschenmenge und bildete einen Kreis um etwas, das sie aus der Ferne nicht genauer erkennen konnten.
"Seht euch mal diese Frau an …!", merkte einer der beistehenden, fremden Männer mit einem anzüglichen Grinsen an. Ein erneuter Schmerzensschrei folgte und eine bissige Frauenstimme kreischte: "Ich sagte, dass du damit aufhören sollst! Hör auf, so einen Schwachsinn zu träumen, und mich damit auch noch vollzumüllen!"
Auf die darauffolgende Stille begannen die Herumstehenden zu murmeln. "Der arme Junge …", meinte eine Magd, "Seht euch diese Krallen an!" – "Na, die müssen ziemlich wehtun", verzog ein Händler das Gesicht.
"Hast du mich verstanden, Herby?", keifte die Frauenstimme von vorhin fort und ein weiterer Schrei ertönte. "Das ist doch grausam …!", bemerkte eine adlige Dame, als ein helles Schluchzen erklang. "Mensch, wieso tut denn keiner etwas …?!", wunderte sich ein gedrungener Handwerker und reckte den Kopf in die Höhe, "Wo sind die Wachen? Ruf doch jemand die Wachen!" – "Mama, i-ich habe Angst!", kam es von einem Kind. "Schhh, meine Kleine", gab die Mutter beruhigend von sich, "Komm, lass uns weitergehen …"
"Verzeihung, dürften wir bitte kurz durch …?" Der Prinz und sein Freund konnten sich endlich einen Weg durch die Menge bahnen; und so standen sie nun vor einer mehr als aufreizend gekleideten, auffällig gutaussehenden, jungen Frau, welche jedoch wie eine Furie auf einen kleinen, weinenden Jungen von nicht mehr als sechs Jahren einschimpfte: "Na heul doch so viel du willst, aber lass mich endlich mit diesem Blödsinn in Ruhe, ist das klar?"
Die Fremde hatte langes, schwarzes Haar und trug mit Schnallen besetzte Lederstiefel auf extrem hohen Absätzen – bei denen sich Sacris prompt fragte, wie man damit überhaupt auf dem Kopfsteinpflaster stehen, geschweige denn gehen konnte. Ein zu den Schuhen passender Lack- und Lederaufzug mit entsprechend tiefem Ausschnitt verpasste ihrer höchst einprägsamen – und höchstwahrscheinlich lunidischen – Erscheinung den letzten Schliff.
"Ob du mich verstanden hast, Herby!?" Drohend beugte sich die Frau über den kleinen Knaben, welcher sich wimmernd seine blutende Wange hielt. Sein weißblondes, topfförmig geschnittenes Haar verbarg seine Augen und ein türkises Seidenbarett zierte sein Haupt mit einer einzelnen, großen Feder. Durch den gleichfarbigen Umhang und eine entsprechend passende Tunika wirkte das Kind fast wie jemand, der versuchte, als edler Knappe durch die Welt zu ziehen und große Heldenabenteuer zu erleben.
Nun hob der Junge den Kopf und richtete seine hellblauen, mit funkelnden Tränen besetzten Augen auf die aufbrausende Frau. "A-aber Träume können doch nicht einfach auf Befehl verändert werden!", erwiderte er verzweifelt, "Was kann ich denn dafür, dass ich gesehen habe, wer dieses Mädchen entführt hat?! Ich kann doch nicht einfach sagen 'Traum, hör auf!' oder 'Träum' was Anderes'!'"
Daraufhin stampfte die Frau zornig auf und holte zu einem weiteren Schlag aus. "Deine Frechheit werde ich dir noch austreiben-!" – Doch weiter kam sie nicht, denn ihre mit scharfen Fingernägeln besetzte Hand wurde plötzlich von jemandem ergriffen. Die Fremde begann zu fluchen und zu zerren, aber der Prinz hielt sie fest umklammert. "Was zum …!", regte sie sich auf und versuchte, ihren Bezwinger allein Kraft ihres Todesblickes in die Flucht zu schlagen.