„Gut, dann bleib so lange bei Gmooh, bis du weißt, was du mit deinem Leben machen willst.“
Er umarmte mich herzlich und schickte mich aus seinem heiligen Wohnungstempel wieder hinaus in die profane Welt Berlins.
Als ich nach Hause ging, fühlte ich mich zwar erleichtert, aber auch nachdenklich. Die letzten Monate war ich so sehr mit meinem eigenen Leid beschäftigt gewesen, dass ich meine Kollegen gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Das wollte ich jetzt ändern. Wenn ich schon nicht den weisen Blick eines Buddhas hatte, so wollte ich jetzt doch zumindest den ethnologisch distanzierten Blick auf diese mir neue und befremdliche Firmenkultur mit ihren seltsamen Angestellten anwenden. Ich hatte das Gefühl, dass mein Studium für diesen Job völlig unwichtig war. Um dem entgegenzuwirken, begann ich heimlich mit einer ethnologischen Feldforschung. Davon hatte mein Lama zwar nichts gesagt, aber wissenschaftliche Distanz konnte vielleicht dazu führen, Abstand zu gewinnen, und vielleicht würde ich dadurch nicht nur meine Kollegen, sondern auch mich selbst besser verstehen. Und vielleicht würde es mir dann auch leichter fallen, die buddhistischen Belehrungen, die ich in den letzten beiden Jahren erhalten hatte, auf meinen Alltag anzuwenden.
„Warst du in einen Straßenkampf verwickelt?“, fragte mich der Masseur, den ich mir in regelmäßigen Abständen leistete, weil mein Nacken verspannt war und ich Rückenschmerzen hatte.
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich.
„Dein Rücken ist so verspannt wie der von einem Boxer! Haste Stress?“
„Nö, eigentlich nicht“, log ich.
„Stress uff Arbeit? Mit den Kollegen? Mit deinem Freund?“, bohrte er weiter, während seine großen Hände sich in meine verspannte Nackenmuskulatur gruben.
„Aua! Ich wollte eine Wohlfühlmassage und keine Schmerzmassage!“
„Erst muss ich die Verspannungen lösen, dann fühlste dich auch besser“, sagte er und bohrte seine Finger weiter in mich hinein.
Schließlich jammerte ich ihm vor, was mir alles nicht passte und dass ich jetzt glaubte, es sei von Anfang an die falsche Entscheidung gewesen, diese Stelle angenommen zu haben.
„Dein Widerstand verbraucht eine Menge Energie. Versuch doch mal, ihn aufzugeben. Lass dich auf die Situation ein.“
Er klang wie mein Lama, und das nervte mich. Wussten denn alle immer besser, was gut für mich war?
„Ja, aber wenn ich mich doch nicht wohlfühle? Soll ich etwa etwas annehmen, was ich nicht gut finde?“
„Gib doch den Widerstand auf! Du kämpfst gegen eine Situation an, und das macht dich müde. Und verspannt.“ Als wolle er seinen Worten Nachdruck verleihen, bohrte er seine Faust noch tiefer in meine Schultern.
„Ergebe dich der Situation, und dann wird alles leichter fließen. Das ist jetzt wie Muskelaufbau.“
Wie lange muss ich mir das noch anhören, dachte ich, während er fröhlich mit seinem Vortrag fortfuhr. „Als ich vor zwanzig Jahren angefangen habe zu massieren, war ich schon nach wenigen Massagen kaputt und dachte, ich schaffe nie mehr als zwei oder drei hintereinander. Doch mit der Zeit habe ich Power aufgebaut und konnte nach kurzer Zeit zehn bis zwölf Stunden massieren und dabei entspannt bleiben. Dein Büro ist jetzt deine Muckibude. Schon bald wird es dir nichts mehr ausmachen, so viel und lange zu arbeiten. Mach das 'ne Weile. Bau Power auf, und dann kannst du sehen, wie es für dich weitergeht.“
Während ich auf der Massageliege lag, fragte ich mich, ob sich andere Uniabsolventen ebenso schwertaten wie ich. Den Freunden, die sich noch immer in der Bewerbungsphase befanden, konnte ich mich nicht anvertrauen, denn allein die Tatsache, dass ich eine Stelle ergattert hatte, sollte mich in ihren Augen zum glücklichsten Menschen der Welt machen. Und die anderen Freunde, die inzwischen ebenfalls arbeiteten, sah ich kaum noch. Sie verbrachten ihre Zeit im Büro, im Krankenhaus oder in der Kanzlei und fielen abends ebenso erschöpft ins Bett wie ich. Ich war also auf mich gestellt. Irgendwie machte das auch Sinn, denn ich ahnte, dass sich das Leiden in meinem eigenen Kopf abspielte. Diese Erkenntnis machte das Ganze aber nicht weniger leidvoll.
Kapitel 6
„Julika, wenn die KB von Kim Müller kommt, kannst du mir die dann gleich geben? Und hast du die BU von Lisa Meyer schon bearbeitet?“ „Bei OC läuft alles gut, aber die USA machen Probleme.“ „Kannst du den AP NL bis Montag konzipieren?“ „Hast du schon gesehen, wer die GF des Monats ist?“
Bei Gmooh kommunizierten alle immer in Abkürzungen und Initialwörtern. Es gab teamübergreifende und teaminterne Abkürzungen, aber es gab keine Liste, welche die Abkürzungen erklärte. Ethnologen, die ins Feld ziehen, haben die Sprache ihrer Ethnie idealerweise zuvor gelernt oder arbeiten mit einem Assistenten, der übersetzt. Bevor ich zu Gmooh kam, wusste ich nicht einmal, dass dort eine andere Sprache gesprochen wurde als im Rest der Welt. Einen Assistenten hatte ich auch nicht. Also machte ich mich daran, Gmoohish im Selbststudium zu lernen. Gebräuchliche Abkürzungen wurden gern mit neuer Bedeutung belegt: NL war bei Gmooh nicht das Kennzeichen für die Niederlande, sondern der Newsletter, HS nicht das Hauptseminar, sondern High School, DP nicht displaced person, sondern double placement im Bereich des Schüleraustauschs.
Nach ein paar Wochen konnte ich mich zwar verständigen und wusste halbwegs, worum es ging, doch integriert fühlte ich mich dadurch noch lange nicht. Wenn es nicht an der Sprache lag, dann vielleicht an der Kleidung, denn auch diese ist ja bekanntermaßen ein wichtiger Ausdruck für Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Kultur.
Als ich bei Gmooh anfing, herrschten tropische Temperaturen, vor allem in unserem Raum, der nach Süden ging. Je weniger man trug, umso angenehmer ließ es sich arbeiten. Wir legten uns nasse Geschirrhandtücher in den Nacken, um das Gehirn zu kühlen.
Einmal winkte Claudia mich zu sich und sagte mir mit vertraulicher Stimme, dass bestimmte Kleidungsstücke zu vermeiden wären: Tops und Miniröcke bei Frauen, Flipflops bei Männern, T-Shirts mit aufgedruckten Sprüchen für alle. Durch reine Beobachtung hatte ich bis dato nicht erschließen können, dass es einen offiziellen Dresscode gab. Es gab einige Kolleginnen, die Spaghettiträgerkleidchen und Flip Flops trugen und niemand schien sich daran zu stören, ich ohnehin nicht. Ich glaubte Claudia nicht und warf die Frage nach einer allgemeinen Kleiderordnung in den Raum.
„Natürlich gibt es eine, so wie bei unserer amerikanischen Mutterorganisation auch! Das hab ich dir doch gesagt!“, erklärte Claudia in scharfem Ton.
„Ach Quatsch“, sagte Eva-Maria. „Von einer Kleiderordnung habe ich ja noch nie gehört, und ich bin schon länger hier als du.“
Die Diskussion schwappte nach und nach in die anderen Räume. Es bildeten sich zwei Fronten: Auf der einen Seite diejenigen, die vehement dafür einstanden, dass es eine offizielle Kleiderordnung gab, auf der anderen Seite die, die noch nie von ihr gehört haben wollten. Wie sich herausstellte, ging ein Teil der Belegschaft davon aus, dass es einen Casual Friday gäbe, also einen Freitag, an dem die strenge Kleiderordnung aufgehoben war und man sich in lässiger Kleidung aufs Wochenende einstimmte. Untermauert wurde diese These durch die Tatsache, dass Matthias, unser Chef, wochentags im Anzug kam und freitags Jeans und Sweatshirt trug. Es gab Kolleginnen, die sich jeden Tag so kleideten, als wäre es Casual Friday und wieder andere, die stets so gestylt waren, als wären sie der eigentliche Big boss. Wir fragten schließlich Matthias. Doch seine Antwort war so schwammig, dass sie in beide Richtungen interpretiert werden konnte.
Wenn Besuch aus den USA kam, gab es von Matthias die Ansage, sich smart casual zu kleiden. Was sich hinter diesem Begriff verbarg, war Interpretationssache. Die Konformisten freuten sich über die Ansage, denn das hieß, dass sich endlich alle ordentlich kleiden mussten. Die Individualisten dagegen beratschlagten, was unbedingt sein müsse und worauf man verzichten könnte. Die große Mehrheit handelte kompromissbereit und trug zur Casual Jeans ein smartes Oberteil.
Was als harmlose Frage begonnen hatte, wuchs