Das Büro unseres Chefs lag in einer abgelegenen Ecke ganz hinten. Matthias war ein Bär mit dunklen Knopfaugen, der vergnügt in seinem Büro saß und von den Mentalitätsunterschieden und Kulturkämpfen, die in der Welt von Gmooh herrschten, anscheinend nichts mitbekam. Stattdessen beschäftigte er sich mit dem Kulturaustausch auf abstrakter Ebene sowie mit dem Kulturaustausch zwischen unserem Berliner Büro und der New Yorker Mutterorganisation.
Es gab noch eine Tür, die immer verschlossen war, und hinter ihr lebte der einzige IT-ler. Er hieß Kai, und man hatte mir geraten, ihn zu meiden. Das war leichter, als ich gedacht hatte. Die seltenen Momente, in denen man Kai außerhalb seines Raumes sah, waren vor der Kaffeemaschine in der Küche. Er erwiderte keinen Gruß, und auch sonst schien er seine Kollegen nicht wahrzunehmen. Er hatte sich innerhalb des Mikrokosmos´ von Gmooh seinen eigenen Mikrokosmos aufgebaut. Sein Zimmer war geräumig, und er saß dort ganz allein. Man fragte sich, was er den ganzen Tag hinter der verschlossenen Tür tat.
Daneben bevölkerte eine wechselnde Schar von Praktikanten die Gmooh-Räume. Sofort nach ihrer Ankunft wurden sie von den Champions aus dem Raum Afrika in Beschlag genommen und dann nur noch zu den Mittagszeiten gesehen. Da saßen sie dann in der Küche, hörten Musik über Kopfhörer und blinzelten sich durch ihre Nerdbrillen zu.
Meinen ersten Kontakt mit dem Schüleraustauschteam hatte ich mit Emelie. Sie war mir schon im Vorstellungsgespräch aufgefallen, da sie mit ihren blonden Zöpfen und ihrer Kombination aus Bluse, Pullunder, Minirock und Kniestrümpfen wie eine gealterte Erstklässlerin aussah. In meiner dritten Woche stellte sie sich neben meinen Schreibtisch und schaute mir wie eine Lehrerin über die Schulter. Während ich einen unserer Standardbriefe unterschrieb, schnappte sie nach Luft.
„Julika, deine Unterschrift ist viel zu groß im Vergleich zum Text!“
„Ich habe eine große Schrift und daher auch eine große Unterschrift“, antwortete ich verblüfft.
„Das sehe ich, aber das ist doch viel zu groß!“
„Soll ich etwa in zehn Punkt unterschreiben? Ich gehöre nicht zu den Leuten, die eine Mäuseschrift haben“, verteidigte ich mich.
Sie zog beleidigt ab. Als ich ihre Briefe einmal zu Gesicht bekam, sah ich, dass sie sie mit akkurater Schulmädchenschrift proportional zur Standardschriftgröße unterschrieb. Wie lange musste man wohl bei Gmooh arbeiten, um zu solcher Perfektion zu gelangen? Ich blieb bei meiner großzügigen Schrift, schlussfolgerte aber, dass ich nicht wirklich hierher passte und schmiedete heimlich Fluchtpläne.
Etwa zur selben Zeit schrieb mir meine Freundin Tina. Sie hatte sich nach dem Studium entschlossen, für drei Jahre nach Frankreich in ein buddhistisches Meditationsretreat zu gehen. Ihre große und geschwungene Handschrift grüßte mich vertraut. Offenbar gab es im Retreat niemanden, der von ihr verlangte, ihre Handschrift zu verkleinern.
„Jeden Tag durchlebe ich denselben Ablauf aus Essen, Schlafen, Meditieren, Unterweisungen, Hausarbeit. Ich fühle mich wie der Typ in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier, und ich kann dir sagen: Es ist ganz schön hart, auch mit den anderen. Langsam, aber sicher kommen doch allerlei Macken zum Vorschein. Ich meine, nicht nur die Macken der anderen, sondern auch meine eigenen. Doch ich bin sehr froh und auch dankbar, dass ich hier sein kann.“
Dieses Geständnis erstaunte mich, denn so beschwerlich hatte ich mir das Retreat nicht vorgestellt. In meiner Vorstellung war man dort mit Menschen zusammen, deren höchste Maxime die Achtsamkeit war und die versuchten, einander in Liebe und Mitgefühl zu begegnen. Dass es auch an einem so spirituellen Ort zu Unstimmigkeiten kommen konnte, irritierte und beruhigte mich zugleich. Ich versuchte nun jeden Tag, Tinas dankbare Haltung im Büro einzunehmen, doch kaum hatte ich unseren Raum betreten, kaum hatte ich Claudia erblickt, lösten sich meine Dankbarkeit und meine guten Vorsätze in Luft auf.
„Wer hat diese Briefmarke hier aufgeklebt?“
Ich schaute verdutzt vom Bildschirm auf. Eva-Maria, die Buchhalterin, lugte über ihre Brille, die ihr etwas von der Nase gerutscht war, und wandte sich an Claudia.
„Also, ich nicht. Das ist ja unmöglich!“
Ich sah eine 1,45-EUR-Briefmarke auf einem DIN-A4-Umschlag. Nichts Ungewöhnliches.
„Das war doch bestimmt wieder Lea!“, vermutete Claudia.
Lea war unsere studentische Hilfskraft, die uns an drei Nachmittagen die Woche unterstützte.
„Bestimmt“, gab ihr Eva-Maria recht.
„Ich kann ja verstehen, dass es langweilig wird, wenn sie Hunderte von Briefmarken aufkleben muss, aber es ist doch so wichtig, dass sie gerade sind!“, sagte Claudia und setzte gekonnt ihre hohe Jammerstimme ein.
Eva-Maria wiegte ihren Kopf mit Bedauern hin und her.
„Aber das ist doch nicht so schlimm, wenn die Briefmarken ein bisschen schief kleben“, sagte ich, während ich an die arme Lea dachte, die oft stundenlang Umschläge bekleben musste.
„Das glaubst du!“ Claudia drehte sich abrupt um und kam auf mich zu. Sie stellte sich neben mich und bohrte mit ihrem Zeigefinger ein Loch in die Luft.
„Wie eine Briefmarke aufgeklebt wird, das sagt sehr viel über die Firma aus!“
„Aha? Wie das?“
„Kunden, vor allem die Eltern unserer Teilnehmer, achten darauf! Natürlich unbewusst, doch eine schiefe Briefmarke zeugt von einer verlotterten Firma, das ist ganz klar.“
„Also, ich achte da nie darauf. Hauptsache ist doch, der Brief ist ausreichend frankiert und kommt an“, sagte ich.
Claudia ließ die Arme sinken, warf Eva-Maria einen verschwörerischen Blick zu und ließ sich resigniert auf ihren Stuhl sinken.
„Wohin soll das noch alles führen, wenn hier jeder macht, was er will?“, fragte Eva-Maria halblaut und starrte auf ihren Bildschirm, als könnte sie die Antwort dort ablesen.
Kapitel 5
„Kannst du dir vorstellen, dass sie mir sagte, ich soll meine Unterschrift verkleinern?“
Lama Semky lachte, und mein Blick fiel wieder auf seine straffen Oberarme, die unter der gelben Robe hervorlugten.
„Und dann hab ich noch eine andere Kollegin, so eine verkappte Hobbypsychologin! Sie hält uns ständig Vorträge über die irrsten Sachen. Hast du schon gewusst, dass schief aufgeklebte Briefmarken ein Zeichen für eine verlotterte Firma sind?“
Mein Lama amüsierte sich prächtig und wollte noch mehr Geschichten aus meinem Büro hören.
„Was mich schockiert ist, wie engstirnig und kurzsichtig die Leute sind, die den lieben langen Tag nichts anderes predigen, als den eigenen Horizont zu erweitern! Leute, die den ganzen Tag von Offenheit und Respekt anderen Kulturen gegenüber reden!“, redete ich mich in Rage.
„Lass sie doch einfach, wie sie sind“, meinte mein Lama.
„Ja, du hast gut lachen! Wenn ich das jetzt erzähle, hört es sich lustig an. Wenn du aber vierzig Stunden die Woche mit solchen Leuten in einem Büro zusammen sitzt, ist es leider überhaupt nicht mehr lustig. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper. Ich passe da einfach nicht rein.“
„Dann mach doch was anderes. Niemand zwingt dich, bei Gmooh zu bleiben“, schlug er vor.
Wie weltfremd mein Lama doch war! Ich hielt ihn für einen brillanten Dharmalehrer, doch vom modernen Arbeitsmarkt hatte er keine Ahnung.
„Glaubst du, es ist so einfach, in Berlin einen neuen Job zu finden? Und wahrscheinlich