Bevor Lama Semky als buddhistischer Lehrer den Dharma4 zu lehren begonnen hatte, hatte er ein bürgerliches Leben geführt: Er war Sport- und Biologielehrer gewesen. Dann begegnete er einem großen Meditationsmeister, machte zwei traditionelle Drei-Jahres-Retreats, ließ sich zum buddhistischen Mönch ordinieren und reiste nun durch Deutschland und hielt Vorträge und Seminare. Offenbar konnte er von diesen Einnahmen auf Spendenbasis gut leben. Er war kein gewöhnlicher buddhistischer Lama, das heißt, er wirkte zumindest nicht so, wie ich mir einen vorgestellt hatte. In meiner Vorstellung lebten buddhistische Mönche fernab der Welt in ärmlichen Verhältnissen und sahen aus wie Imitate des Dalai Lama. Lama Semky sah aus wie James Dean ausgesehen hätte, wäre er in die Fünfziger gekommen. Er war modebewusst und trug die vorgeschriebenen dunkelroten und gelben Roben elegant drapiert um seinen Körper. Er hatte ein neues Handy, einen teuren Laptop und allerlei technische Gimmicks, die ich weder kannte noch verstand. Dies alles waren Geschenke seiner Schüler, die ihre Dankbarkeit und Hingabe ausdrücken wollten.
Unsere erste Begegnung hatte ein paar Jahre zuvor in einer Altbauwohnung in Kreuzberg stattgefunden, wo er ein Wochenendseminar mit dem Titel Liebe und Mitgefühl gegeben hatte. Meine Freundin Tina, zu diesem Zeitpunkt gerade Buddhistin geworden, hatte mich mit leuchtenden Augen überredet, diesen inspirierenden Lama einmal kennenzulernen.
„Wie spricht man denn so einen Lama an?“, fragte ich ehrfürchtig.
„Das ist alles ganz locker. Alle duzen ihn, und du wirst sehen, er ist extrem lässig.“
Als ich ihn sah, war ich sofort in seinem Bann. Diese strahlenden, klaren Augen, dieser offene, interessierte Blick und diese humorvolle Art trafen mich mitten ins Herz. Wir verstanden uns auf Anhieb und lachten über dieselben Dinge. Als er das nächste Mal in Berlin war, nahm ich bei ihm die buddhistischen Zufluchtsgelübde5. Und nun saß ich regelmäßig in seiner Dachgeschosswohnung und führte stundenlange Gespräche mit ihm – nicht nur über den Buddhismus, sondern über alle Themen, die uns interessierten. Ob das ein normales Lehrer-Schüler-Verhältnis war, vermochte ich nicht zu sagen, da mir der Vergleich fehlte.
„Der Weg beginnt immer da, wo man gerade ist.“
Seine Worte hallten in mir nach, als ich in der U-Bahn saß. Um zu beginnen, wo man ist, muss man erst mal wissen, wo man ist, dachte ich. Wo war ich bei Gmooh gelandet?
Kapitel 4
Gmooh war ein Acronym für „Get me out of here“. Der Name war Programm, denn Gmooh vermittelte jährlich Hunderte von Menschen in alle Welt. Wenn man einen Gmoohler fragte, was Gmooh eigentlich tat, sagte er gern mit breitem Grinsen: „Menschenhandel!“ Um dem verdutzten Fragesteller dann zu erklären, dass dieser natürlich auf Freiwilligkeit basiere.
Jeden Morgen schritt ich unter den wachsamen Augen ehrwürdiger Stuckfiguren die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe hinauf in den sechsten Stock eines Gründerzeithauses. Dabei hatte ich das Gefühl, vom Berlin meiner Gegenwart durch das 19. Jahrhundert zu einem völlig neuen Ort vorzudringen, der mit meinem Raum- und Zeitverständnis nichts zu tun hatte und wo eine mir unbekannte Mentalität und Kultur herrschte.
Alle Büroräume bei Gmooh trugen die Namen von Kontinenten und Städten und waren in bunten Farben gestrichen: Raum Afrika, Raum Europa, Raum Ozeanien … Es gab zwei große Programme: Au pair und Schüleraustausch. Daneben gab es noch kleine Programme, die in der allgemeinen Wahrnehmung aber nur eine untergeordnete Rolle spielten. Bei Gmooh sprach man nicht von Abteilungen, sondern von Teams: Das Au-pair-Team vermittelte Au pairs und das Schüleraustausch-Team Austauschschüler. Und beide Teams standen miteinander in ständigem Wettkampf.
Claudia war die Teamleiterin des Au-pair-Teams, wobei Duo-Leiterin es wohl besser getroffen hätte. Elisabeth war die Teamleiterin des Schüleraustausch-Teams und für die beiden Kundenberater Emelie und Erik verantwortlich. Sie saß mit ihren zwei Assistenten im Raum Afrika, und während sie mit den Eltern der Austauschschüler telefonierte, drehte sie mit dem Zeigefinger Spiralen in ihre silberfarbenen Locken und lachte ihr tiefes, rauchiges Lachen, das so gar nicht zu ihrer feinen Silhouette und ihrem betont gesunden Lebensstil zu passen schien.
An je einer Zimmerwand hing ein großes Bild, das den betreffenden Kontinent oder die Stadt charakterisierte, und ein Sprichwort, das in irgendeiner Form mit Reisen zu tun hatte: Zwei Wege trennten sich im Wald. Ich wählte den weniger Ausgetretenen. Und das machte den Unterschied.
Die bunten Farben und lockeren Sprüche machten gute Laune. Umso stärker war der Kontrast zu dem Büroraum, in dem ich saß. Er war nüchtern weiß. Er entsprach keinem Kontinent, nicht einmal ein Städtename war für ihn abgefallen. Zwischen all den bunten Räumen um mich herum wirkte er wie eine gähnend leere Wüste. War die Farbe ausgegangen? Hatte es keinen aufmunternden Sinnspruch mehr für uns gegeben? Dabei war unser Raum von allen Räumen mit fünf Mitarbeitern am dichtesten besiedelt.
Hieß es „Die Besprechung findet heute in Europa statt“, musste ich anfangs immer nachfragen, wo das war. Denn neben Europa gab es noch andere Besprechungsräume wie Ozeanien oder das kleine Zimmer Robinson Crusoe. Und jedes Mal kam mir die Frage lächerlich vor, denn außerhalb von Gmooh wusste ich sehr wohl, wo im Universum ich positioniert war. Doch im Mikrokosmos Gmooh konnte man das schon mal vergessen. Da Geografie nicht gerade meine Stärke war, hatte ich in meinem inneren Lexikon eine vergleichbar einfache Dreiteilung gefunden: Ich teilte die Raumzonen gemäß ihrer Mentalitätsunterschiede ein. Der weiße Raum ohne Namen war gleich links von der Eingangshalle, und in meinem inneren Lexikon hieß er Holt-mich-hier-raus-Raum. Die Insassen darin brüteten über der Frage: „Wie schaffe ich es, auf einem Kontinent anzukommen, der außerhalb von Gmooh liegt?“ Das war der Raum, in dem ich nun vierzig Stunden die Woche vegetierte. In gewisser Weise war es ironisch, dass ausgerechnet die Kolleginnen in diesem farb-, namen- und mottolosen Raum das Firmenmotto Get me out of here am meisten verinnerlicht hatten.
Direkt neben unserem Büro lag der Raum des Schüleraustausch-Teams. Ich nannte ihn innerlich We are the Champions. Obwohl die Schüleraustausch-Programme im Vergleich zum Au-pair-Programm teuer waren, war die Nachfrage groß. Entweder wollten die Jugendlichen weg von ihren Alten oder die Eltern brauchten dringend eine Erholungspause von ihrem aufmüpfigen Nachwuchs. Auch in den Austauschländern wurden die Austauschschüler mit offenen Armen empfangen. Wieso man sich freiwillig einen pubertierenden Teenager aus dem Ausland ins Haus holte, blieb mir ein Rätsel, und ich bewunderte die Eltern für ihren Großmut und ihren Idealismus. Das Programm boomte und die Erträge ebenso. Diese Tatsache pumpte enormes Selbstbewusstsein in die Venen des Schüleraustausch-Teams, und ständig herrschte dort eine euphorische Stimmung wie nach einem gewonnenen Fußballspiel. Wir anderen Teams dagegen fühlten uns als Ersatzteams, die nur selten aufs Spielfeld gelassen wurden.
Von diesen beiden Räumen gelangte man über das sogenannte Berliner Zimmer durch einen langen Flur, von mir der Kanal genannt, in den hinteren, nördlichen Teil des Büros. Wann immer ich den Kanal passierte, hatte ich das Gefühl, an seinem Ende in eine andere Dimension einzutreten. Die Menschen, die hier arbeiteten, erkannte man an ihren entspannten Gesichtszügen und an ihrer Lässigkeit – Merkmale, die am südlichen Ende gänzlich fehlten.
Hatte man den Kanal durchquert, kam man nach Asien. Hier lag aus der Sicht der meisten das Schlaraffenland, nämlich die Räume des Marketings und von unserem Chef. Betrat man das Marketingzimmer, hatte man das Gefühl, eine Gartenoase zu betreten: Die Wände waren lindgrün gestrichen, Palmen und Orchideen standen auf den Schreibtischen, und ein Mobile aus bunten Papierpapageien hing von der Decke.