Das Paradies ist zu Ende. Louis Lautr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Louis Lautr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742724182
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den Hintern. Die Flecken wurden beim Waschen etwas blasser, aber man sah sie, bis ihm die Hose zu klein war. Die Mädchen lachten wenn er diese Hose trug.

      Es gab Ladengeschäfte, die sich Tauschring, oder Tauschzentrale nannten. Menschen brachten z.B. Möbel, Besteck, Kleidung, Schuhe, oder Spielwaren hin und konnten andere Dinge dafür eintauschen. Menschen, denen der Schwarzmarkt zu riskant war, nutzten diese praktischen Einrichtungen. In Stuttgart hatten wir Verwandte, die eine Bäckerei besaßen. Tante Lydia die Ehefrau des jüngeren Bruders, meines Vaters, leitete mit ihrem Vater und ihrer Mutter den Bäckerladen, während der Bruder meines verstorbenen Vaters noch studierte. Alle Menschen konnte nur mit Lebensmittelmarken einkaufen. Ich erinnere mich noch an ein besonderes Weihnachten, von Verwandten bekam ich einen hübschen, braunen Anzug mit einer kurzen Hose, der meinem Vetter zu klein war. Meine Mutter schenkte mir ein Schälchen Zucker, das ich mir gewünscht hatte. Mein Großvater, der in Stuttgart eine Möbelfabrik, zwei Häuser, und eine Tankstelle besessen hatte, war durch die Bombennächte in Stuttgart völlig mittellos geworden. Er besuchte seine neun Kinder, die den Krieg überlebt hatten, regelmäßig. Natürlich besuchte er auch meine Mutter. Da er seinen Kindern nicht zur Last fallen wollte, versuchte er, wenn er uns besuchte, seine Arbeitskraft zu spenden und schreinerte in der benachbarten Schreinerei für uns schöne und nützliche Gebrauchsgegenstände. Er kannte die Schreiner in Larenbuch und durfte bei ihre Maschinen benutzen. Er schreinerte uns einen Deichselwagen und schenkte mir sein Taschenmesser, das er aus Friedens- und Vorkriegszeiten besaß. Auch dies war eine Art der Tauschbörse, denn er stellte der Schreinerei seine Arbeitskraft zur Verfügung, dafür erhielt er Material und durfte die Maschinen benutzen. Unsrer Familie reparierte er Möbel, oder Fenster und Türen, dafür wohnte und aß er bei uns. Ich liebte meinen Opa sehr. Er erzählte interessante Geschichten. Ich erfuhr, wie in Stuttgart die Gaslaternen auf Strom umgerüstet wurden, wie er sein erstes Auto kaufte, es war ein Opel, bei dem der Scheibenwischer von Hand bedient wurde. Er erzählte, wie der erste Zeppelin über den Bodensee flog und wie der erste Weltkrieg begann, wie es danach eine Inflation gab und wie der Zweite Weltkrieg begann und erneut das Geld inflationär wurde. Ich konnte nicht verstehen, warum Menschen immer wieder Kriege beginnen konnten. Es wurde mir als Kind bewusst, dass durch Kriege niemand profitieren würde. Ich fragte: „Opa, wie war es, als du selbst ein Kind warst?“ Er sagte: „Das war die schlimmste Zeit meines Lebens, ich wurde in einem Waisenhaus groß. Meine Eltern sind früh gestorben, ich kannte weder meinen Vater noch meine Mutter. Waisenhäuser waren damals furchtbar. Wir bekamen Essen, das heute kaum Schweine fressen würden. Wir wurden trotzdem nie satt. Alle Zimmer waren im Winter sehr kalt. Als ich Fieber hatte und fürchterlich fror, nahm mich eines der größeren Mädchen in ihr Bett. Sie bekam von einer Erzieherin, dafür Prügel. Im Sommer war es unerträglich heiß. Es gab in diesem Haus Wanzen, Flöhe und sonstiges Ungeziefer. Wir wurden von unseren Kinderschwestern, oder Kindertanten für jede Kleinigkeit verprügelt. Manche Kinder wurden so geschlagen, dass sie nicht aufstehen konnten. Wenn wir Läuse hatten, wurden allen Kindern die Haare abrasiert. Dann hatten Mädchen und Jungs eine Glatze. Ich war froh, als ich vierzehn war und eine Lehre als Schreiner begann. Ich wurde dort zwar auch oft geschlagen, bekam aber genügend zu Essen. Als ich älter wurde, wollte ich unbedingt meine eigene Schreinerei. Weil ich fleißig und gottesfürchtig war, wurde aus meiner kleinen Schreinerei, eine Möbelfabrik. Über die schreckliche Zeit meiner Kindheit möchte ich nie wieder reden, es war eine Hölle. Wir hatten nichts mit dem Teufel zu tun, aber unsere Erzieherinnen waren Teufel in Frauengestalt.“ Ich fragte: „Opa, warum gibt es Menschen, die man als Feind bezeichnet?“ Mein Opa versuchte es zu erklären und meinte: „Louis, die Franzosen waren schon immer unsere Feinde.“ Ich sagte: „Opa, ich kann es nicht verstehen.“ Mein Opa meinte: „Es kann sein, dass deine Generation vielleicht keine Kriege erlebt. Wenn Kinder als Erwachsene noch so denken wie du, wünsche ich dir, dass du keinen Krieg erleben müsst. Ich bete für euch, dass ihr jeden Streit ohne Krieg löst. Viele Menschen wurden in einer Bombennacht zum Bettler, weil sie alles verloren haben. Meine Möbelfabrik und meine Wohnhäuser wurden in zwei Bombennächten zerstört. Ich danke Gott, weil nur einer meiner Söhne im Krieg gefallen ist, elf meiner zwölf Kinder haben den Krieg überlebt. Ich hoffe, dass künftig alle Kinder so denken wie du, dann erlebt ihr hoffentlich keinen Krieg mehr.“ Ich dachte an meine Freund aus Tunesien und konnte mir kaum vorstellen, warum er zum Feind werden könnte und wann Menschen zu Feinden werden.

      Alle Nahrungsmittel waren in der Nachkriegszeit wertvoll. Kurzfristig erfuhren die Menschen, dass man auf Lebensmittelmarken Salatöl in einem Lebensmittelladen kaufen könne. Wichtige Informationen wurden durch den Büttel bekanntgegeben, der mit einer Schelle läutend durchs Dorf ging. Er rief „Bekanntmachung!“ und verkündete mit lauter Stimme, was gerade für die Bürger des Dorfs von Interesse war. Dass beispielsweise ein Ochse das Bein gebrochen habe und das Tier geschlachtet wurde, man könne beim Metzger Malrad günstig Rindfleisch kaufen. Es gab in unserem Dorf sogenannte Leichensegnerinnen. Es handelte sich um ältere Frauen, die von Tür zu Tür gingen und Menschen erzählten: „D‘ Frau Roller ist gestorben und die Beerdigung ist übermorgen um 14:00.“ So wurde das Wichtigste entweder durch den Dorfbüttel mit seiner Glocke und mit lauter Stimme vorgetragen, oder durch ältere Frauen direkt mitgeteilt. Der „Leichensegnerin“ gaben die Menschen etwas Geld, wenn sie die meist schlechten Nachrichten erzählte. Ich überlegte und fragte: „Mutter, warum gibt man der alten Frau Geld, wenn sie schlechte Nachrichten erzählt, und warum bekommt der Büttel, für seine guten Nachrichten kein Geld?“ Meine Mutter, die meine Fragen fast immer beantworten konnte, lächelte und sagte: „Der Büttel bekommt natürlich auch Geld, nur nicht von den Menschen, denen er seine Nachrichten erzählt, er bekommt sein Geld vom Rathaus, weil es alle Menschen in unserem Dorf betrifft und weil seine Familie von dem Geld lebt, das er bekommt. Die alte Frau ist sehr arm und braucht das Geld, das ihr die Menschen geben. Sie kann nicht mit einer Glocke durch die Straßen gehen, ihre Stimme ist zu schwach und zu leise.“ Ich überlegte und fragte: „Aber Mutter, du hast doch eine laute Stimme und könntest Büttel werden, dann würdest du auch Geld vom Rathaus bekommen und wir müssten nicht so sparen.“ Meine Mutter lachte und sagte: „Es gibt keine Frauen die Büttel sind, das ist ein Beruf für Männer. Weißt du mein kleiner Louis, es gibt ja auch keine Bürgermeisterinnen, keine Polizistinnen, keine Feuerwehrfrauen und keine Soldatinnen. Es gibt Hebammen, Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern. Es gibt Männer- und Frauenberufe.“ Ich überlegte und sagte: „Aber Mutter, es gibt Ärzte und Ärztinnen, Lehrer und Lehrerinnen. Deshalb könnte es auch Polizistinnen und Bürgermeisterinnen, oder Soldatinnen geben. Wenn ich König wäre, könnten in meinem Land alle Menschen ihren Beruf aussuchen. Du bist lieb und gerecht, du könntest Bürgermeisterin werden, ich würde dich wählen.“ Meine Mutter umarmte mich und sagte lachend: „Du wärst sicher ein guter König, in deinem Land wäre ich gern Bürgermeisterin. Vielleicht gibt es, wenn du erwachsen bist, Bürgermeisterinnen, Polizistinnen und Soldatinnen. Vielleicht würde es dann keine Kriege mehr geben, weil Frauen nicht auf Menschen schießen.“ Als meine Mutter abends an meinem Bett saß und mit mir betete, sagte ich am Ende meines Gebetes: „Bitte lieber Gott, lass doch alle Menschen ihren Beruf aussuchen, dann könnte meine Mutter mit ihrer lauten Stimme Büttel, oder Bürgermeisterin werden und lass Frauen Soldatinnen werden, damit es keine Kriege mehr gibt.“ Meine Mutter umarmte mich und sagte: „Vielleicht träumst du heute Nacht von deiner schönen Welt, in der auch Frauen Berufe aussuchen können.“ In der Nachkriegszeit kamen fremde Menschen in unser Dorf, denen Wohnungen zugewiesen wurden. Sie sprachen deutsch mit einem anderen Dialekt. Man erzählte, es kommen Flüchtlinge aus Regionen, die von Polen oder Russen aus ihrem Land vertrieben wurden. Flüchtlinge mussten ebenfalls mit knapper werdenden Nahrungsmitteln versorgt werden. Wenn es in Läden auf Lebensmittelmarken etwas zu kaufen gab, liefen Menschen hin. Wenn wir uns beeilten und am Anfang der Schlange standen, bekam man das Mehl auf Lebensmittelmarken. Manchmal ging es gerade aus, wenn man endlich an die Reihe kam.

      Als es am 21.06.1948 die Währungsreform gab war ich gerade sechs Jahre alt geworden. Jeder Mensch bekam ein sogenanntes Kopfgeld von 40,00 Deutschen Mark. Die Schaufenster der Läden waren über Nacht mit allen Waren gefüllt, die man sich vorstellen konnte. Es gab nichts, was es nicht in Läden zu kaufen gab. Einen Tag vor dieser Währungsreform gab es in diesen Läden nichts, nicht mal auf Lebensmittelmarken, auch nicht, wenn man bestimmte Ladeninhaber, die uns kannten, gefragt hat. Sie bedauerten immer sehr, dass wir als Familie