Die Schritte seines Verfolgers hallten durch das Arbeitszimmer und schienen ihn zu verhöhnen. Er nahm sich die schwere Messinglampe vom Schreibtisch und sprang entschlossen hinter die Eingangstür und zog lautlos den Schlüssel aus dem Schloss.
Es war nur eine kleine Chance, aber besser, als in die Hände seines Feindes zu geraten.
Die Schritte verstummten.
Oberhofer drückte sich gegen die Wand und hielt den Atem an.
Der Strahl der Taschenlampe kroch über den Boden.
Plötzlich sprang der Mann in den Raum und suchte die Umgebung mit seiner Lampe ab.
Oberhofer schleuderte mit aller Kraft, die er aufwenden konnte, die Messinglampe auf den Eindringling. Dieser fuhr erschrocken herum und hob schützend die Hände vor das Gesicht. Die Lampe hätte ihn sonst direkt am Kopf getroffen. Die Wucht des Wurfgeschosses und die Überraschung liessen ihn das Gleichgewicht verlieren.
Oberhofer nutzte die Gunst des Augenblicks und rannte um die Tür herum und zog sie hinter sich zu. Nervös versuchte er den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Drinnen hörte er, wie sich der Mann wieder erhob. Endlich steckte der Schlüssel und Oberhofer drehte ihn schnell zweimal. Die Klinke wurde von innen heruntergedrückt und der Gefangene rüttelte wild an der Tür.
Oberhofer drehte sich um und rannte so schnell er konnte die Treppe hinunter. Unten abgekommen hörte zwei Schüsse und wie kurz darauf die Tür aufgerissen wurde. Oberhofer rannte um sein Leben.
In der Küche fischte er den Autoschlüssel aus dem Schlüsselkasten und wollte sofort weiter rennen. Er glitt aber auf dem Besteck aus, das überall auf dem Boden verstreut lag. Alles lief plötzlich nur noch in Zeitlupe ab. Messer und Gabeln rutschten und stoben in alle Richtungen auseinander. Der Boden kam schoss ihm entgegen und er schlug hart auf dem Steinboden auf. Der Aufprall raubte ihm für einen Moment lang den Atem. Erneut hörte er Schritte auf der Treppe: Wie Kriegstrommeln im Urwald.
Oberhofer musste weiter. Er rappelte sich auf und schleppte sich zur Tür, die in die Garage führte. In der Garage angelangt, verschloss er die Tür und ging um seinen BMW herum. Er setzte sich in den Wagen und fuhr hastig auf den Platz.
Wieder hallten zwei Schüsse durch die Nacht. Oberhofer erschrak und blickte in den Rückspiegel. Mit einem lauten Knall schwang die Verbindungstür zur Wohnung auf und der Mann rannte in die Garage.
Oberhofer trat das Gaspedal durch und das Fahrzeug geriet auf dem glatten Untergrund ins Schleudern. Die kleine Mauer, die den Platz umrundete, stoppte die Bewegung abrupt. Oberhofer wurde im Wagen herumgeworfen, doch trat er sogleich wieder aufs Gas. Der BMW schoss nach vorn und schrammte funkensprühend an der Mauer entlang bis zur Strasse.
Wieder hörte er Schüsse.
Oberhofer riss den Wagen herum und bog in die Strasse ein.
Und wieder ein Schuss, Glas splitterte. Die Kugel hatte die Scheibe der hinteren Autotür durchschlagen. Geschockt starrte Oberhofer auf das kaputte Fenster, doch blieb ihm keine Zeit. Er beschleunigte und fuhr die Strasse zum Dorf hinunter.
Erst an der Bahnstation wagte er anzuhalten. Erschöpft liess er sich im Sitz zurückfallen und atmete durch.
Die Bahnhofsuhr zeigte bereits sechs Uhr. Es war noch dunkel, doch bald würde die Dämmerung einsetzen. Die ersten Menschen strömten durch die kalte Morgenluft zu dem wartenden Zug.
Er stieg aus den Wagen und setzte sich in das kleine Café, das den müden Menschen heisse Getränke aller Art anbot.
Oberhofer wählte einen schwarzen Kaffee an der Bar und überlegte sich, was er nun als Nächstes unternehmen sollte. Er setzte sich an einen silbernen Tisch. Sollte er die Polizei einschalten? Doch was, wenn die ihm zu viele Fragen stellen würden? Es wussten schon zu viele Leute von der Kiste, wie diese Nacht gezeigt hatte.
Draussen setzte sich der Zug quietschend in Bewegung. Ein Mann rannte verzweifelt über den Platz und blieb dann fluchend auf dem Bahnsteig stehen. Deprimiert flüchtete er sich in die Wärme des Cafés.
Nein, sagte sich Oberhofer. Er konnte nicht zur Polizei gehen. Es war einfach zu gefährlich, dass noch mehr durchsickern würde. Es fiel ihm nur eine Person ein, an die er sich jetzt wenden und der er vollkommen vertrauen konnte.
Danach würde er das Auto in seine Werkstatt bringen, um kein weiteres Aufsehen zu erregen Ins Haus konnte er jedenfalls nicht zurück, so sehr er sich auch wünschte, die Kiste zu holen. Er musste sich im Moment auf das Versteck verlassen, momentan gab es keine andere Möglichkeit. Er war zum Warten verdammt.
Während er im Café sass, liess er sich die ganze Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen. Viel Merkwürdiges war diese Nacht passiert, einiges, was er nie für möglich gehalten hätte. Es gab hingegen noch ein Indiz, das dagegen sprach zur Polizei zu gehen. Denn wenn er richtig beobachtet hatte, dann konnte auch die Polizei, zumindest gegen einen der Einbrecher, nichts unternehmen.
War es tatsächlich wahr, was er auf dem Nummernschild des Chryslers gesehen hatte?
7.
Jessica rannte die schmale, gewundene Strasse hinunter. Der Verfolger kam ihr immer näher. Sie suchte nach einer Möglichkeit sich zu verstecken - aber weit und breit konnte sie nichts finden. Nur ein weites, offenes Feld, durch das sich die Schotterstrasse wand und auf der sie ihrem Verfolger zu entkommen versuchte. Langsam stieg feiner Nebel aus den Feldern, am Himmel schien keine Sonne. Weiter vorne erschien ein grauer, flacher Platz: weit, ohne Gebäude. Auf dem Platz standen reglose, blasse Menschen. Sie schrie um Hilfe. Niemand reagierte. Jessica blickte zurück. Der Verfolger befand sich nur noch wenige Meter hinter ihr. Bald würde er sie einholen.
Sie hatte den Platz erreicht. Sie schrie wieder verzweifelt um Hilfe, aber niemand beachtete sie. Die Leute standen teilnahmslos da und unterhielten sich. Niemand nahm Notiz von ihr.
Der Verfolger rannte noch eine Armlänge entfernt hinter ihr her. Jeden Moment würde er sie packen. Sie hörte Stimmen. Jemand rief ihren Namen. Verzweifelt schaute sie sich um.
Nichts.
Sie hastete weiter zwischen den Leuten umher. Da vorne spielten Kinder. Nein, sie weinten. Sie riefen ihren Namen. Als sie völlig ausser Atem die Kinder erreichte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
Jessica schreckte hoch. Sie brauchte einen kurzen Moment um zu realisieren, dass sie bei sich zu Hause in ihrem eigenen Bett lag. Durch die geschlossenen Jalousien zwängte sich sanftes Morgenlicht ins Zimmer. Die Hand auf ihrer Schulter gehörte Simone, die weinend neben dem grossen Doppelbett stand und ihren Namen rief.
Jessica setzte sich auf und zog Simone zu sich heran. „Was ist denn los?“, fragte sie ihre jüngste Tochter und schloss sie in die Arme. Nach dem Traum taten ihr die Nähe und Wärme gut.
„Marco und Julia lassen mich nicht mitspielen“, antwortete Simone schluchzend und strich sich ihre blonden Haare aus der Stirn. Tränen rannen aus den blauen Augen und kullerten über die runden Backen. „Sie sind in Marcos Zimmer und lassen mich nicht hinein.“ Schluchzend schmiegte sie sich fester an ihre Mutter.
„Willst du denn nicht lieber alleine etwas spielen?“
„Nein! Ich will mit den anderen spielen!“ kam die trotzige Antwort. Das Weinen hatte aufgehört.
„Aber, wenn du alleine etwas spielst, dann kannst du machen, was du willst und musst dir nicht von den anderen sagen lassen, was du zu tun hast. Das ist doch viel schöner.“
„Ich will aber nicht alleine spielen!“
„Aber, wenn Julia und Marco alleine spielen wollen, kann ich sie doch nicht zwingen, dich mitspielen zu lassen. Sie…“
„Doch das kannst du! Sag ihnen, dass sie mich mitspielen lassen sollen!“
„Aber dann lassen sie dich nur mitspielen, weil ich es ihnen befohlen habe und dann